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Buch der Woche: Blick auf eine bessere Welt

Zugfahrer und politischer Essayist: Der 2010 verstorbene Historiker Tony Judt erinnert sich in seinem letzten Buch in Form von Miniaturen an sein Leben.

Es könnte gut sein, dass Tony Judt ganz erstaunt von sich selbst war, als er das Vorwort für sein letztes Buch „Das Chalet der Erinnerungen“ schrieb. Verfasst hat er es im Mai 2010, wenige Monate vor seinem Tod am 6. August 2010, wobei das Leben, das er damals noch zu führen imstande war, ein qualvolles gewesen sein muss. Der 1948 in England geborene Historiker litt an einer unheilbar fortschreitenden Nervenerkrankung, der amytrophen Lateralsklerose. Und zu dem Zeitpunkt, als er dieses Buch konzipiert, kann er sich nicht mehr selbstständig bewegen und nicht mehr selbstständig atmen. Nicht einmal sich irgendwo kratzen ist ihm mehr möglich. Judt lebt eingeschlossen in seinem Körper und ist rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen.

Trotzdem spricht er in seinem Vorwort von „Glück“, vom Glück darüber, „einen gut ausgestatteten Kopf zu haben – voll abrufbarer, vielseitig verwendbarer Erinnerungen, die einem analytischen Verstand jederzeit zur Verfügung stehen“. Weil er diese Erinnerungen selbst nicht mehr auf Papier festhalten kann und diktieren muss, weil er gerade nachts, wenn er allein ist, in seinem Kopf unablässig Geschichten schreibt, kommt er, um all das am nächsten Tag noch präsent zu haben, auf die Idee, sich das titelgebende Chalet der Erinnerungen zu bauen und darin umherzuwandern. Das Vorbild dafür ist ein kleines Familienhotel im Schweizer Wallis, das er in den späten fünfziger Jahren mit seinen Eltern besucht hat.

Dieses Chalet und seine Flure und Räume sind Judts Erinnerungsspeicher, aus dem dann dieses letzte, kurz nach seinem Tod in den USA veröffentlichte Buch wurde, eine Autobiografie der etwas anderen Art. Sie besteht aus kleinen Erinnerungsskizzen, Feuilletons und Essays, die kurz vor Judts Tod in regelmäßigen Abständen im „New York Review of Books“ erschienen sind.

In chronologischer Reihenfolge, aber auch nach Themen geordnet wie Ernährung, Politik, Verkehrsmittel oder Städte und Länder, erzählt Judt Geschichten aus seinem Leben: von der Kindheit und Jugend in London, der Studienzeit in Cambridge und Paris, seiner Entdeckung Osteuropas, den Erfahrungen in den USA. Trotz des erzählenden, erinnernden Charakters dieser Miniaturen kann und mag Judt nie aus seiner analytischen Haut. Wie schon in seinem Langessay „Dem Land geht es schlecht“ ist er ein stets engagierter politischer Beobachter, Kritiker und Mahner, der kein Blatt vor den Mund nimmt, getreu der Vorgabe: „Etwas stimmt grundsätzlich nicht mit der Art, wie wir heute leben.“

Zum Beispiel, wenn er von seiner Prägung durch die entbehrungsreichen fünfziger Jahre in Großbritannien spricht, vom höchst bescheidenen Labour-Premierminister Attlee, der es nicht darauf anlegte, „aus einem langen politischen Leben materielle Vorteile zu ziehen“. Was ihn zum Vergleich mit der heutigen Politikergeneration anregt: „Statt um das Gemeinwohl geht es nur noch um die Wirtschaft, und von unseren Politikern erwarten wir keine größeren Entwürfe.“ Oder wenn Judt von seiner einstigen Leidenschaft fürs Bahnfahren erzählt: „Privatisierung, Kommerzialisierung der Bahnhöfe und zunehmend desinteressierte Mitarbeiter trugen zu meiner Frustration bei.“ Er beklagt moderne sprachliche Nachlässigkeiten („ein Zeichen ungenügenden Denkens“); er geißelt die überkommene Vorstellung, nur die Arbeit definiere einen Menschen, und er reibt sich überhaupt am Umgang mit der Arbeitslosigkeit in der Moderne: „Gutbezahlte Experten bezeichnen Sozialhilfeempfänger gern als Schmarotzer … und empfehlen ihnen, sich eine anständige Arbeit zu suchen. Sie sollten es selbst einmal ausprobieren.“

Judt dagegen konnte einen Beruf ergreifen, den er von früh an im Auge hatte, und konnte in ihm sogar Karriere machen: als Kind aus einer Familie der unteren Mittelklasse, das in den Genuss sozialdemokratischer Bildungsreformen kam, als Enkelkind jüdischer Einwanderer, das aber als „entschieden nichtjüdischer Jude“ aufwuchs. Trotzdem begeisterte er sich als junger Mann für den Zionismus und arbeitete mehrere Sommer in israelischen Kibbuzim, bevor er sein Studium am King’s College in Cambridge begann. Die sechziger Jahre sind zwar auch seine Revolutionsjahre, aber im Nachhinein erkennt er, wie wenig revolutionär er und seine Altersgenossen eigentlich waren, eher Salonrevolutionäre. Und wie wirklich revolutionär diejenigen, die hinter dem eisernen Vorhang versuchten, die bestehenden sozialistischen Verhältnisse zu verändern, in Polen, Ungarn oder der Tschechoslowakei.

Tony Judt, der mit „Postwar“ eine brillante, Sozial- und Geistesgeschichte verbindende Studie über das Europa der Nachkriegszeit geschrieben hat, war kein Freund des Zeitgeistes, sondern ein sozialdemokratisch gesinnter Linker und politischer Intellektueller, all dem verbunden, „was von der Linken übrig geblieben ist“. Unterwegs in seinem Chalet der Erinnerungen, kritisiert er den Triumph der Konsumgesellschaft, die verkommene Moral in Politik und Gesellschaft und den Siegeszug der politischen Korrektheit insbesondere an den Universitäten. Auch das Herausstellen von Identität, „das warme Bad der Identität“ ist ihm, dem Israel überaus kritisch gegenüberstehenden Juden und überzeugten New Yorker ein Dorn im Auge – und Grund zur Sorge: „Wenn die aufbegehrenden Habenichtse vor den Mauern der Gated Communitys von Delhi bis Dallas stehen, wird mit immer schrillerer Stimme von Identität gesprochen werden. Däne, Italiener, Amerikaner oder Europäer zu sein wird nicht bloß eine Identität sein – wer nicht dazu gehört, wird gnadenlos abgewiesen.“

Am Ende singt Judt ein hohes Lied ausgerechnet auf die Schweiz als Idealbeispiel für „die Möglichkeiten und Vorteile einer vermischen Identität“, einem Land „voller Gegensätze“ und Beharrungskräfte. Die Schweiz aber ist auch das Land, mit dem er schönste, intensivste Erinnerungen an die Kindheit verbindet, der „glücklichste Ort der Welt“. Spätestens hier weiß man, dass das Glück des todkranken Tony Judt bei den Streifzügen durch sein Chalet auch ein Glück für den Leser dieses Erinnerungsbuchs ist.

– Tony Judt: Das Chalet der Erinnerungen. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Hanser Verlag, München 2012. 224 Seiten, 18,90 Euro.

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