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In der Anormalität. Rom, Leere.

© dpa

Buch über die Coronakrise: "In Zeiten der Ansteckung" von Paolo Giordano

Mathematik und Natur: Der italienische Schriftsteller Paolo Giordano hat mit "In Zeiten der Ansteckung" ein Buch über die Coronakrise geschrieben.

Der italienische Schriftsteller Paolo Giordano geht in dieser Zeit seinem Beruf nach: Er schreibt. Nur ist es ihm gerade ein Anliegen, nicht einfach die Arbeit an einem neuen Buch fortzusetzen, sondern über die Coronakrise zu schreiben. Giordano, der 2008 gleich mit seinem Debütroman „Die Einsamkeit der Primzahlen“ zu Bestsellerehren kam, glaubt, dass das Schreiben „der Ballast“ sein könne, „der einem hilft, mit den Füßen am Boden zu bleiben“. Und dass es die Leere ausfüllt, die er momentan empfinde in Anbetracht der Maßnahmen, die das öffentliche Leben zum Erliegen gebracht haben, um die Pandemie eindämmen.

„In Zeiten der Ansteckung“ heißt das kleine Buch von Giordano, das der Rowohlt Verlag am Ende dieser Woche als E-Book und dann am 21. April als Taschenbuch veröffentlicht. (Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner, 80 S.., 4, 99/8 €.) Giordano erzählt darin von seinen Gedanken und Gefühlen in dieser Zeit, und er macht das vor allem rational, als Naturwissenschaftler. Der 1982 in Turin geborene Schriftsteller hat Physik studiert und schloss sein Studium mit einer Promotion in theoretischer Physik ab. Er analysiert die „Mathematik der Ansteckung“, stellt sich die Menschheit als „siebeneinhalb Milliarden Kugeln“ vor, erklärt das Symbol „R-Null“, das unter eins sein muss, um die Ansteckungen zu verlangsamen (zweieinhalb beträgt der Wert bei Covid-19).

Und Giordano erläutert, warum er jetzt so gebannt Tag für Tag auf die neuen Zahlen schaut, was es mit dem exponenziellen Wachstum auf sich hat und dass man die Intelligenz des Virus nicht überschätzen solle: „In Wirklichkeit ist es die Natur selbst, die nicht linear strukturiert ist. Die Natur bevorzugt schwindelerregendes oder entschieden langsameres Wachstum, Exponenten und Logarithmen. Die Natur ist ihrer Natur nach nicht linear.“

Nun könnte man auf den Gedanken kommen, Giordano würde mitten aus dem Epizentrum der Krise berichten, eben Italien mit seinen vielen Ínfizierten und Toten. Und er würde dabei womöglich versuchen, einer neuen Solidarität oder, im Gegenteil, gesellschaftlichen Verwerfungen auf die Spur kommen. Doch das tut der in Rom lebende Autor mit seinem schmalen Buch kaum. Denn sein Bericht beginnt am 29. Februar, da hat die Zahl der Ansteckungen weltweit die 85 000 überschritten, und setzt sich für ein paar Tage in den frühen März fort. Wie man weiß, hat die Lage sich seither dramatisch verändert, weltweit liegt die Zahl der bestätigten Infektionen inzwischen bei weit über 660 000. Auch Giordano ist sich dessen natürlich bewusst, und so versucht er, Allgemeingültiges der Pandemie zu ergründen, diese als „eine Infektion unseres Beziehungsnetzes“ zu begreifen.

Dazu gehört für ihn eine „Mathematik der Vorsicht“, dass jeder Einzelne sich sorgt, als Teil eines Kollektivs begreift, eines globalisierten Kollektivs überdies: „Im Jahr 2020 hat sogar der rigoroseste Eremit ein Minimum an Verbindungen. Wir leben in einem wirklich sehr dichten Graph, um es mit der Mathematik zu sagen.“ Von der Sehnsucht nach Normalität spricht der italienische Schriftsteller noch, dass nun die „Zeit der Anormalität sei“, mit der zu leben sei, vom Fliegen, Klimawandel, der Rolle der Experten.

All das ist nachvollziehbar und richtig; doch Giordano liefert keine neuen Erkenntnisse oder blickt gar über den Corona-Horizont hinaus. Doch warum sollte ausgerechnet er das können, da das sowieso niemand vermag? Es ist die Crux einer solchen Veröffentlichung, dass sie zwar etwas enorm Zeitgemäßes hat, ein Schriftsteller aber zwingend notwendig weder Experte noch Visionär ist. Was Paolo Giordano wohl für Gedanken in drei Wochen hat, wenn es „In Zeiten der Ansteckung“ als gedrucktes Buch gibt und sich das ganze Ausmaß der Pandemie noch besser absehen lässt? Schriftsteller und Schriftstellerinnen müssen schreiben, wollen auch aktuell reagieren, wie es zum Beispiel die von Literaturhäusern in Graz und in Lenzburg publizierten Corona-Tagebücher demonstrieren.

Doch sie tun sich naturgemäß schwer mit diesem Stoff, so wie es Kathrin Röggla in einem Eintrag zum Ausdruck gebracht hat: „Frühlingsbeginn. Ich melde mich aus der Vergangenheit zurück. Das, was ich hier schreibe, wird in fünf Tagen sichtbar sein, also im Paläozoikum der neuen Zeit. Die Halbwertszeit vom Neuigkeitswert liegt bei ca. sechs Stunden. Danach sind die Dinge, die wir aufgeregt phänomenologisch beschreiben, veraltet. Ich komme also nicht durch zu der Gegenwart der Lesenden, bin irgendwie in der Vorzeit zuhause, aus der ich wie hinter dicken Glasscheiben winken kann (...).“

Die Literatur, sie hat gegen das Virus, gegen das, was gerade passiert, kaum eine Chance. Ihre Stärke verdankt sich der Zeit, dem Abstand zu den Ereignissen. Man muss kein Prophet sein, um sehen zu können, dass da noch einiges kommen wird. Gerrit Bartels

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