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Staatsoper Unter den Linden Berlin "DIE ENTFUEHRUNG AUS DEM SERAIL"

© Barbara Braun

Opernpremiere: Mozart in Schwarz, Pink, Gold

Die Wiederentdeckung der Aura: Michael Thalheimer inszeniert Mozarts „Entführung aus dem Serail“ an der Lindenoper

Ein wenig läppisch ist dieses verspätete Pfingstwunder schon. „The Abduction from the Seraglio“ prangt als Titel auf dem Staatsopern-Programmbuch, und Mozarts Figuren reden an diesem Europa-Wahlabend gern, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, zumindest in den Rezitativen – italienisch, slowakisch, englisch. Ein deutsches Singspiel mit Migrationshintergründen, so sieht Regisseur Michael Thalheimer Mozarts „Entführung aus dem Serail“. Ein Stationendrama über den Fremden, das Fremde in dir und in mir und über die unheimliche vierte Wand, die Saal und Bühne, Spieler und Zuschauer im bürgerlichen Theater seit jeher trennt.

So weit, so beflissen. Aber das ist nicht alles.

Klar auch, dass sich zum guten, gar nicht guten Ende hin zu Füßen der Proszeniumslogen jeweils die falschen Paare finden: Konstanze und Pedrillo hüben, Belmonte und Blonde drüben. Versprengte, Entwurzelte, Liebestote, die sich in den zurückliegenden zwei Stunden (ohne Pause) um alles andere bemüht haben als um die Entzündung neuer alter Herzensglut oder die Eroberung der Freiheit. So recht bemüht sich hier eigentlich niemand mehr.

Einzig Osmin (Maurizio Muraro mit knorrigem Bass) steuert noch etwas krachlederne Wut und Leidenschaft bei. Eine Schießbudenfigur mit blutroten Handflächen und Adidas-Streifen an der Pumphose. Der Haremswürger auf Hartz IV? Da hat die Oper des 21. Jahrhunderts schon Vielschichtigeres, Gefährlicheres gesehen. Nicht nur bei Calixto Bieitos Skandal-„Entführung“ nebenan, an der Komischen Oper, die den Bordell-Gedanken wörtlich nahm und sich in allen Körpersäften suhlte.

Und trotzdem. Diese zwei Stunden nahezu nackte Mozart-Musik haben, altmodisch ausgedrückt, ein Geheimnis, eine Aura. Vielleicht ist es nur Thalheimers Ratlosigkeit, die einen (mit)beben lässt; sicher ist es Philippe Jordan am Pult der Staatskapelle, der eine noch etwas festgezurrte, nicht wirklich freie, aber tadellos studierte und auch immer wieder hübsch rasselnde Lesart der Partitur bietet. Das Pathos dieser Aufführung, seltsam genug, speist sich aus dem Nichts, der Leere: der Leere der Szene, den statuarischen Choreografien, den überzeichneten Charakteren. Je enger diese Grenzen gezogen werden, je härter die programmatische Schale, desto heftiger entzündet sich die eigene Fantasie – daran und dagegen. Wenn sie bereit dazu ist.

Konstanze beispielsweise sieht aus wie Anneliese Rothenberger (wenn sie nur auch so sänge!) bei Madame Tussaud, eine Figurine, eingeschlossen in sich selbst. Blonde wiederum ist erstens nicht blond und in ihrem schreiend pinkfarbenen Babydoll zweitens so etwas wie die kleine fiese Schwester von Charlotte Roche, während Pedrillo mit kurzen Hosen und karottigem Haarschopf frisch aus der jüngsten Harry-Potter-Verfilmung entsprungen scheint. Und Belmonte, dieser schöne, weiße abendländische Prinz, der sich zu Beginn mit „Hier soll ich dich denn sehen“ müde aus der dritten Reihe des Parketts schält, versprüht schätzungsweise so viel Sex-Appeal wie Siegfried von Siegfried & Roy.

Wie damit nun eine Geschichte erzählen, die 1782 von Rache und Vergebung, Türkenangst und Gottestreue, Liebesraub und Trieben spricht? Die frühe Mozart-Welt, sagen Thalheimers Bühnenbildner Olaf Altmann und seine fabelhafte Kostümbildnerin Katrin Lea Tag, kennt nur Gegensätze: ein Oben und ein Unten, ein Drinnen und ein Draußen, ein Schwarz und ein Weiß. Eine Kiste mit zwei Stockwerken, das ist die Bühne. Mal schiebt sich eine Wand über die eine oder die andere Hälfte, mal spielt das Geschehen rund um den Graben. Weiß ist die Farbe für das hohe Personal (Konstanze, Belmonte, Bassa Selim), Schwarz die fürs niedere (Blonde, Pedrillo, Chor). Ganz einfach.

Den Vergleich mit Ruth Berghaus’ legendärer Frankfurter „Entführung“ von 1981 (im eigenen schwarz-weißen Bühnenbild) lässt man hier wohl besser ruhen, aber ganz unähnlich ist das Prinzip nicht: Wo sich eine Wirklichkeit selbst entleert, entkernt, entseelt hat, da wird das Kleinste plötzlich groß, da spricht jeder Farbtupfer von Utopie. Blondchens Pink versinnbildlicht sozusagen die Vulgär-Version dieser Anschauung. Spannend wird das und beziehungsreich, wenn die Spitzen von Osmins Hausschlappen morgenländisch nach oben schnäbeln oder wenn sich auch Konstanzes Hände rosarot angemalt finden: Weil sie sie buchstäblich nicht mehr in Unschuld baden kann? Weil sie dem erotischen Werben des sie gefangen haltenden Bassa Selim längst nachgegeben hat – und sei es nur im Kopf, im Traum?

Überhaupt: dieser Bassa. Ein energetisches Ereignis. Pures intellektuelles Testosteron. In geübter Thalheimer-Manier entzieht Sven Lehmann seinem knarzigen, teerigen Schauspieler-Organ jede Regung. Ein Macho, der geradeaus spricht, weil er anders nie zu sprechen gelernt hat. Mit blattgüldenen Applikationen als Koteletten und Backenbart, mit Goldstaub auf den Handrücken, mit Schuhen, die aussehen, als seien sie aus heller und dunkler Schokolade gedrechselt, harrt er seines Unglücks.

Konstanzes „Martern“-Arie besiegelt dieses schließlich. Kaum hat der Bassa ihr ins Ohr geflüstert, welche Foltern ihr bevorstehen, sollte sie sich ihm weiter verweigern, schüttelt sie jegliche Furcht ab: „Ordne nur, gebiete, / lärme, tobe, wüte, / zuletzt befreit mich doch der Tod!“ Wie eine Königin thront Christine Schäfer auf einem Stühlchen in der Mitte der Bühne, wirft erst die linke Schulter zurück, dann die rechte und feuert Mozarts Koloraturen Salve für Salve ab. Die Subversivität des weiblichen Gesangs, die gemeinhin erst Richard Wagner unterstellt wird, hier feiert sie ein Fest – und eine triumphale Hinrichtung.

Ganz langsam nämlich beugt sich der Bassa, fasst sich ans Herz, knickt mit den Knien weg, krümmt sich schließlich, fällt, begreift mit jeder Faser seines Körpers, dass das Gefühl, sein Gefühl gegen die westliche Wohlanständigkeit und Tugend nie etwas wird ausrichten können. Großartig. Da ist es auch gar nicht so wichtig, dass Schäfers Sopran in der Höhe Mühen hat und einiges von seiner silbernen Leichtigkeit und Unbestechlichkeit, seiner Virtuosität eingebüßt zu haben scheint (trotz bewegender, inniger Momente in der „Traurigkeits“-Arie).

Wie gut die Stimmen ansonsten harmonieren, wie sorgfältig hier geplant und gearbeitet wurde, zeigt sich vor allem im Quartett („Ach Belmonte! Ach mein Leben!“). Pavol Breslik ist ein viriler, glänzend timbrierter Belmonte mit ausgesprochen sinnlichen Piani – kein Fritz Wunderlich, aber die belcantistische Emphase kann ja wachsen. Anna Prohaskas Blonde hat Mut zur dreckigen Lache und zum drastischen Spiel, ein kerniger, ausdruckssicherer Sopran. Und auch Florian Hoffmann als Pedrillo erfreut dank seines natürlichen Spieltenor-Materials.

Gerade einmal zwei Stunden dauert die Aufführung, wie gesagt, Michael Thalheimer hasst Längen und hat in eigener Dialogfassung für wohltuende Kürze gesorgt. Zwei Stunden: Für Mozart ist das eine Strecke. Für Philippe Jordan auch, der die Spannung bei allem Willen zur Präzision, allen überraschenden Tempowendungen und Geräuscheffekten, aller glitzernden Streicher-Transparenz nicht immer ganz halten kann. Eine einzige Staatskapellen-Kantilene freilich, die zum Duett Belmonte-Konstanze im dritten Akt, entschädigt hier wieder, ein einziger Weltseele gewordener Klangseufzer: „Was ist der Tod? Ein Übergang zur Ruh!“

Nur Blondchen wird just an dieser Stelle – schöner Verfremdungseffekt – endgültig vom Schlaf übermannt. Viel Beifall, kleine Buhs für die Regie.

Wieder am 11., 13., 17., 21. und 29. Juni

Christine Lemke-Matwey

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