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Kultur: Bürgerseele

Zum Tod des Politologen Wilhelm Hennis.

Für die Politikwissenschaft der Nachkriegszeit war er eine große Gestalt, eine wichtige Instanz. Keiner hat so wie Wilhelm Hennis die Disziplin zurückgebunden an ihre alte Tradition, die in ihr eine praktische, auf das politische Handeln bezogene Wissenschaft sah. Und keiner hat die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes so wie er über mehr als ein halbes Jahrhundert bewiesen: als Autor und Professor, als intellektueller Anreger und als ungestümer Streiter.

Denn dieser untersetzte Niedersachse war ein luzider Geist und ein gelehrter Feuerkopf, den es immer wieder in die aktuellen Auseinandersetzungen der Zeit hineinzog. In dieser hoch intellektuellen Persönlichkeit verbanden sich Gelehrsamkeit, Leidenschaft und Querköpfigkeit. Mit alledem hat er seine Spuren tief in die geistige und politische Geschichte der Bundesrepublik eingegraben.

Überhaupt war er in seinem Leben und Denken ein beeindruckender, hoch problembewusster Begleiter der deutschen Nachkriegsgeschichte. Noch voll in den Krieg geraten – der U-Boot-Fahrer überlebte drei Havarien –, gehörte er zum ersten Göttinger Nachkriegssemester. Der Jurist wurde der erste wissenschaftliche Mitarbeiter der SPD-Fraktion im Bundestag und einer der ersten Professoren der jungen Wissenschaft von der Politik. Er überwarf sich mit der SPD, focht heftig mit in den bildungspolitischen Kontroversen der sechziger Jahre und wurde einer der schärfsten Kritiker der Studentenbewegung. Zeitweise gehörte er der CDU an, aber der späte Kohl hatte keinen schärferen Kritiker als ihn. Und immer bezog er Position, setzte Maßstäbe, bereicherte die Diskussion mit seinen Argumenten. Oft war er polemisch, nur ledern und uninteressant war er nie.

An seinem Bild der Politik faszinierte der rare Umstand, dass er gedanklichen Tiefgang mit dem Interesse an den Regeln und Erfahrungen ihres praktischen Funktionierens verband. Er schlug sich herum mit den Wegen und Abwegen des Parteienstaats, des Regierens, des parlamentarischen Betriebs und der Öffentlichkeit, je konkreter, desto temperamentvoller – und vermittelte damit und dadurch einen Begriff unserer repräsentativen Demokratie, der in der klassischen Tradition wurzelte und gleichwohl ganz nahe an ihrer Wirklichkeit war. Er nahm das Getriebe der praktischen Politik ernst, aber klopfte es ab auf seine Bedeutung, fragte nach seinem Wesen und konfrontierte es mit dem Postulat, dass Politik der bürgerschaftlichen, seelischen Anteilnahme bedürfe, kurz: dass die Politik sich der Frage nach dem guten, richtigen Leben zu stellen habe. Irgendwo hat er einmal geschrieben, dass eine wichtige Bedingung richtiger Politik das richtige, verantwortliche Denken über sie sei. Wilhelm Hennis, der jetzt fast neunzigjährig in Freiburg gestorben ist, hat einen bedeutenden Beitrag zu diesem Denken geleistet. Hermann Rudolph

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