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Halsbrecherisches Vorhaben: Eine Seite aus dem besprochenen Band.

© Edition Moderne

„Die Eisenbahn über den Wolken“: Schleppende Fahrt mit dem Asien-Express

Li Kunwu hat eigentlich ein Händchen für spannende historische Reportagen. Doch sein jüngstes Werk „Die Eisenbahn über den Wolken“ enttäuscht.

Der Comic beginnt mit einem Rätsel: Li Kunwu stößt auf einer seiner Reisen in einer chinesischen Industriestadt zufällig auf einen kleinen, fast vergessenen Friedhof, den ihn ein Einheimischer zeigt: Den „Friedhof der Ausländer“. Doch es ist kaum etwas darüber herauszufinden: Weshalb wurde er angelegt? Wer liegt dort begraben? Und was haben diese Ausländer hier in China gemacht?

Durch seine Recherchen stößt Kunwu schließlich auf Geschichte der Yunnan-Bahn, ein architektonisches Wunderwerk, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter gewaltigen Kraftanstrengungen erbaut wurde, aber fast ebenso vergessen ist, wie besagter Friedhof: Auf 855 Kilometern schlängelte sich die Schmalspurbahn über 173 Brücken und durch 158 Tunnel durch das majestätische Yunnan-Gebirge.

Über die Fotografien des Franzosen Georges-Auguste Marbotte, der den zehnjährigen Bau der Bahn dokumentiert hat, taucht Kunwu immer tiefer in die Geschichte der Yunnan-Bahn ein, bei deren Errichtung tausende Arbeiter ihr Leben verloren.

Recherchen statt Story

All das klingt spannend und ist es auch – doch leider ist es Kunwu nicht gelungen, daraus auch einen spannenden Comic zu machen. Mit der Trilogie „Ein Leben in China“ sowie mit „Lotusfüße“ hat er überaus beeindruckende Comics über die jüngere chinesische Vergangenheit vorgelegt. Anders als in diesen Werken setzt Kunwu das lohnende Thema von „Die Eisenbahn über den Wolken“ jedoch erstaunlich behäbig in Szene.

Jede Bahnschwelle steht für einen Toten: Eine Seite aus dem besprochenen Band.
Jede Bahnschwelle steht für einen Toten: Eine Seite aus dem besprochenen Band.

© Edition Moderne

Das liegt vor allem daran, dass der Autor seine eher unspektakulären Recherchen viel zu sehr zum Thema des Comics gemacht hat: Es macht die Geschichte wirklich nicht besser, wenn man Kunwu über mehrere Seiten dabei zuschauen muss, wie er durch ein Museum geführt wird oder ein französisches Buch vorgelesen bekommt, das er selber nicht lesen kann. Auch die Begeisterung, die Kunwu verständlicherweise für das architektonische Wunderwerk seiner Heimat Yunnan verbreitet, mag nicht recht überspringen – Eisenbahn-Fans sind nun mal ein Völkchen für sich.

 Auf Knochen errichtet

Die dröge Form kontrastiert schmerzlich mit der wirklich dramatischen Geschichte des Bahnbaus: Die Yunnan-Bahn war ein zwiespältiges Projekt zwischen technischem Fortschritt und kolonialem Machtanspruch, geplant von französischen Ingenieuren, errichtet von über 60 000 chinesischen Arbeitern, von denen bei dem halsbrecherischem Vorhaben Tausende starben - jede Bahnschwelle steht für einen Toten, heißt es.

Begonnen in den letzten Zügen der Quing-Dynastie, spiegelt die Yunnan-Bahn zudem den Einbruch des Westens in Spätphase des feudalen Chinas wider. Das Kaiserreich ging unter, doch die Bahn blieb, erlebte den Krieg gegen Japan, den Bürgerkrieg, Mao und den erneuten Aufstieg des Reichs der Mitte – sie fährt bis heute.

Historische Recherche: Das Cover des besprochenen Bandes.
Historische Recherche: Das Cover des besprochenen Bandes.

© Edition Moderne

Seltsamerweise begnügt Kunwu sich damit, diese Punkte nur stichpunktartig zu streifen, anstatt sie zu vertiefen oder zu einer zusammenhängenden Erzählung zu verdichten. Stattdessen gibt er zahllose Fotos und Originalzitate Marbotte wieder. Streckenweise wirkt „Die Eisenbahn über den Wolken“ eher wie ein Manuskript mit Rohmaterial und Notizen, aus dem man vielleicht später einen Comic hätte machen können.

 Ambitioniert aber ernüchternd

Kunwu hat ein durchaus ehrenwertes Anliegen, nämlich die Yunnan-Bahn dem Vergessen zu entreißen und sich für den Erhalt dieses Welterbes einzusetzen. Leider ersetzt diese Motivation noch keine gute Story, und manchmal hat man das Gefühl, dass der Comic mit einer gewissen Eile gezeichnet wurde. Kunwus faszinierender Zeichenstil, der entfernt an die skizzenhafte Dynamik eines Hugo Pratt erinnert, ist in „Die Eisenbahn über den Wolken“ auch nicht so ausdrucksstark wie sonst. Brillierte Kunwu bei „Ein Leben in China“ vor allem mit seinen beinahe satirischen Figurenzeichnungen, hat er sich hier auf einen eher nüchternen Stil verlegt.

Unterm Strich ist „Die Eisenbahn über den Wolken“ ein zwar ambitioniertes aber leicht enttäuschendes Werk, aus dem man sicher mehr hätte machen können – vielleicht hätte die Mitwirkung eines Szenaristen wie Philippe Autier, der schon bei „Ein Leben in China“ als Koautor mitwirkte, dem Ganzen gut getan. Aber zumindest Eisenbahn-Fans sollten an dem Comic ihre Freude haben.

Li Kunwu: Die Eisenbahn über den Wolken, Edition Moderne, 216 Seiten 29 Euro.

Mehr Tagesspiegel-Artikel von Erik Wenk unter diesem Link, zu seinem Blog geht es hier.

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