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© Illustration: Larcenet / Promo

Manu Larcenet: Poesie des Alltags

Manu Larcenet schließt mit dem Band „Gewissheiten“ seine Serie "Der Alltägliche Kampf" ab und beweist, dass der französische Comic auch realistisch erzählen kann.

Eigentlich bedarf der neue frankobelgische Comic keiner Frischzellenkur. Es geht ihm gut. Dennoch findet sich neben den etablierten Namen immer wieder einer, der sich vom Rest abhebt: In diesem Fall ist es Manu Larcenet, der mit seinem Comic "Der Alltägliche Kampf" die Renaissance des Realismus einläutet. Er porträtiert nicht nur die gesellschaftliche Realität in Frankreich mit mitfühlender Besorgtheit, sondern zeigt auch auf poetische Weise, welche Freuden eben dieser mühsame Alltag mit sich bringen kann.

In dem Album „Gewissheiten“ beschließt Larcenet die Geschichte des jungen Fotografen Marco, der, ausgebrannt von der Jagd nach neuen Sensationsfotos, die Ruhe und Zurückgezogenheit auf dem Land sucht, um über sich und die Welt nachzudenken. Wie in den vorangegangen drei

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Kinderspiele. Vater und Tochter im Schnee.

© Illustration: Larcenet / Promo

Alben zu lesen ist, gelang ihm das nicht immer mit Erfolg; so hat Marco zwar neue Vertraute gefunden, doch musste er auch wieder Schicksalsschläge, wie den Verlust eines engen Familienangehörigen, verschmerzen. Im letzten Band der Reihe gesellt sich zu dem bereits etablierten Figurensortiment Maude hinzu, Marcos kleine Tochter. Die Geschichte erfährt ihre Klimax, als Marco die Schließung der Schiffswerft, bei der sein Vater gearbeitet hatte, mit der Kamera dokumentiert. Auf dieser Reise wird er mit dem aktuellen politischen Klima in Frankreich kurz vor den Präsidentschaftswahlen 2007 konfrontiert.


Überdimensionierte Nasen, authentische Gefühle

Der graphische Stil Larcenets erinnert zunächst an die Marcinelle-Schule: kleine Figuren mit überdimensionalen Nasen, oftmals überzogenen Gefühlsausbrüchen und hohem Wiedererkennungswert. Obwohl Larcenet auch Geschichten für das Magazin Spirou verfasst hat, das diesen Stil prägte, entwickeln sich nicht nur die Figuren in den vier Episoden von "Der Alltägliche Kampf" weiter, sondern auch Larcenets Zeichenstil selbst. Ähnlich wie die eingefügten Fotos seines Protagonisten, die immer wieder die Handlung unterbrechen, lässt sich die künstlerische Entwicklung des Zeichners mitverfolgen: Larcenet gelingt es im letzten Band, die Gesichter der Werftarbeiter und die dahinter sitzende Betrübtheit einzufangen ohne diese dabei humoresk zu überhöhen, und verleiht ihnen so Würde.

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Kleine Familie, großes Glück. Die privaten Episoden bilden ein Gegengewicht zum politischen Kontext der Handlung.

© Illustration: Larcenet / Promo

Trotz der unverkennbaren graphischen Anleihen bei der Marcinelle-Schule zeichnet sich Larcenets Werk deutlich von dem seiner französischen Kollegen ab, mit denen er bereits bei den unterschiedlichsten Projekten zusammengearbeitet hat; Im Gegensatz zu den außerirdischen Welten in "Die Kosmonauten der Zukunft" mit Lewis Trondheim oder den fantastischen Monsterhorden in "Donjon: Parade" mit Trondheim und Johan Sfar fängt Larcenet in "Der Alltägliche Kampf" durch seinen unverklärten Realismus die pessimistische Grundstimmung unserer Zeit ein: „Man hat Fernsehen, Internet und ’nen Geländewagen, man geht zur Wahl und hat immer noch Angst vor schwarzen Katzen. Vive la France.“


Diese Welt gehört Dir - mach was draus

Doch diese pessimistischen Passagen, die auch den Protagonisten immer wieder dazu ermutigen einfach alles hinzuschmeißen, werden durchzogen von glücksgefüllten Momenten, die Larcenet nur leicht andeuten muss. Während Debatten über Frankreichs Zukunft in epischer Breite ausgewalzt werden, braucht Larcenet nur ein oder zwei stumme Bilder von Maude und ihrem Vater zu zeichnen, um das Gleichgewicht, nach dem Marco die

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Analytisch. Starke Dialoge und stille Momente wechseln sich ab.

© Illustration: Larcenet / Promo

ganze Zeit sucht, wiederherzustellen: „Unbelastet von der Logik ist die Poesie die einzige Möglichkeit absolut frei wahrzunehmen, was kostbar ist.“ Diese Momente des Glücks, aber auch der Enttäuschung erweckt der Zeichner durch Dialoge zwischen den Figuren; Dialoge, die kurz vor dem Höhepunkt abbrechen und dem Leser dennoch vermitteln, was gesagt oder auch gefühlt wird.

Im Gegensatz zu Larcenets eher humoresker Sinnsuche in "Die Rückkehr aufs Land" weist der Autor in "Der Alltägliche Kampf" explizit auf soziale Ungerechtigkeiten in Frankreich hin. Gleichzeitig zeichnet er das Alltagsleben von Marco nach, der diesen Problemen scheinbar hilflos gegenübersteht. Doch gerade durch sein Porträt des jungen Fotografen und dessen kleiner Familie erzeugt Larcenet eine Verletzlichkeit, die alle gesellschaftlichen Spannungen entkräftet. Mit dem Verzicht auf zu viele Worte gelingt es dem Autor durch realistische Dialoge glaubwürdige Figuren zu kreieren. Vor allem aber erinnert uns Larcenet daran, dass diese Welt uns gehört. „Ich übergebe sie dir offiziell“, verkündet eine von Larcenets Figuren und gibt dem Protagonisten und dem Leser zu verstehen: „Jetzt musst du sehen, wie du mit ihr klarkommst…“

Manu Larcenet: Der Alltägliche Kampf, Reprodukt-Verlag, Übersetzung Kai Wilksen, Lettering Dirk Rehm, abgeschlossene Geschichte mit vier Bänden, je rund 60 Seiten, je 13 Euro, alle vier Bände im Schuber 52 Euro.

Leseproben auf der Website des Reprodukt-Verlags.

Manu Larcenets Homepage.

Der Autor dieses Artikels, Daniel Wüllner, beschäftigt sich mit Comics aller Art, beleuchtet aber vor allem die akademische Seite der Comics in seinem Blog Neues aus dem Elfenbeinturm
.

Siehe auch die Tagesspiegel-Kolumne von Modern-Graphics-Chef Micha Wießler.

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