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Stadtbaukunst. Der Berliner Gendarmenmarkt im Gemälde, um 1822.

© Abb. aus dem Buch

Geschichte des europäischen Städtebaus: Das Gehäuse der Polis

Pienza, Paris, Berlin: Der Architekturhistoriker Vittorio M. Lampugnani schildert in einem Buch die Geschichte des europäischen Städtebaus von der Renaissance bis 1900.

„Die physische Form der Stadt bildet stets das Ergebnis des Versuchs, einer bestimmten sozialen Ordnung eine entsprechende architektonische Gestalt zu verleihen“, schreibt Vittorio Magnago Lampugnani eingangs seines neuen Buches, „Die Stadt von der Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert“. Der 1951 in Rom geborene, lange in Zürich lehrende und zugleich in Berlin heimische Architekturhistoriker – derzeit als Fellow am Wissenschaftskolleg in der Stadt – beschreibt damit weniger einen Zustand, als dass er ein Programm formuliert.

Die – wohlgemerkt abendländische – Stadt ist für ihn das Ergebnis bewusster Entscheidungen. Die Stadt als bauliche Hülle der polis, der politischen Gemeinschaft, ist eben Folge von Politik. Insofern versteht es sich, dass Lampugnani Residenz- und Hauptstädte im Blick hat; denn wo sonst ließe sich seine These untermauern? Die ersten drei der 13 Kapitel des verschwenderisch illustrierten Buches – eine Augenweide! – behandeln denn auch die Städte der Renaissance. Und gerade in Architektur und Stadtbaukunst war es eine tatsächliche Renaissance, eine Wiedergeburt römisch-antiker Ratio. Am schönsten kommt diese Art Stadt als Wunschbild in den kleinen Residenzen zum Ausdruck, etwa dem so malerisch gelegenen Pienza in der Toskana und dem melancholisch verdämmerten Sabbioneta nördlich von Mantua. Beide Städtchen trennt ein Jahrhundert; Pienza steht für die Morgen-, Sabbioneta bereits für die Abendröte der Renaissance. Für Vicenza, wohl weil nur eine Provinzstadt unter den Fittichen Venedigs, hat Lampugnani ungeachtet des grandiosen Erbes an Bauten Palladios leider keinen Blick.

Berlin im 19. Jhdt. wird auch abgehandelt

Der geht dann nach Frankreich, nach Versailles als Höhepunkt des Absolutismus und seiner Fixierung auf den Herrscher; weiter nach Paris, das zwei Mal im Buch abgehandelt wird: in der Zeit von Revolution und Napoleon, und dann im Second Empire. Paris ist überhaupt das schönste – und in der Fachliteratur bis zum letzten Pflasterstein abgehandelte – Beispiel von Stadtplanung und dem steten Kampf zwischen Ordnung von oben und Eigenmächtigkeit von unten.

Wien hätte zu Paris aufschließen können, doch als sich die k.u.k. Monarchie ihrer Weltgeltung endlich bewusst wurde und die mittelalterlichen Mauern Wiens sprengte, war es spät und für die imperiale Neugestaltung der Hofburg und angrenzender Areale gar zu spät. So blieb Wien das Denkmal des Fin de siècle.

Berlin darf in einem Buch für deutsche Leser nicht fehlen; auch wenn die Beschränkung auf das 19. Jahrhundert nur einen Teil seiner Geschichte beleuchtet (Lampugnani hat 2010 bereits das zweibändige Werk „Die Stadt im 20. Jahrhundert“ vorgelegt). Das ist also einerseits Schinkel, andererseits Hobrecht; verkürzt gesagt: zum einen Kunst, zum anderen (Miets-)Kaserne. Schinkels Ideal bürgerlicher Repräsentation scheitert nach seinem Tod 1841 am Siegeszug der Bauspekulation und damit an der Ökonomie. Sie wird in Lampugnanis Darstellung der Entwicklung Berlins als bestimmende Größe der Stadtbildung zwar genannt, aber doch durch Gegenbeispiele wie „Riehmers Hofgarten“ ausbalanciert.

Seine Darstellung zeigt, was verloren gegangen ist

Eingeflochten ist bezeichnenderweise ein weiteres Kapitel über Idealstädte – diesmal des 19. Jahrhunderts. Es sind Visionen, die das Elend der Industriellen Revolution aufheben und Arbeit und Leben vereinen sollten, wie die – tatsächlich gebaute – „Familistère“ im ländlichen Frankreich. Die jedoch bildet keine eigentliche Stadt mehr. Ganz anders dann das Schlusskapitel über Barcelona mit einer „der schönsten Stadterweiterungen des 19. Jahrhunderts: einem streng, geradezu überstreng rationalen Rasterplan“.

Das „gerade vollendete Sabbioneta“ verwandelte sich „in eine vor sich hin dämmernde Kulissenstadt“, schreibt Lampugnani über die Residenz nach dem Tod des Gonzaga-Fürsten 1591: „Die Bevölkerung schrumpfte, die Bausubstanz bröckelte.“ Heute haben wir es zwar weiterhin mit bröckelnden Bauten zu tun, hingegen mit wachsenden Bevölkerungen.

Für die Megastädte Außereuropas taugt die Betrachtungsweise des Städtebautheoretikers – im Grunde Ästheten – Lampugnani nicht. So ist seine rundum gelungene Darstellung des Städtebaus vor 1900 eine Verlustanzeige – und zugleich der Weckruf, sich der Tradition und damit der Möglichkeit zu entsinnen, Stadt nicht wuchern zu lassen, sondern zu gestalten.

Vittorio Magnago Lampugnani: Die Stadt von der Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert. Urbane Entwürfe in Europa und Nordamerika. Wagenbach Verlag, Berlin 2017. Großformat, 377 S. m. 350 meist farbigen Abb., bis 31. Januar 78 €, danach 98 €.

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