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Ichform, ungeschützt. Die Publizistin Jutta Voigt.

©  Milena Schlösser

Literatur: Das Kleingedruckte der Seele

Schreiben als angewandte Grausamkeit: Jutta Voigt und ihr sehr persönlicher Roman über das Älterwerden. Ein Treffen mit der großen Journalistin in Prenzlauer Berg.

Sie weiß nicht mehr genau, wie und wann ihr die Idee zu diesem Buch kam. Nur dass ihr zuerst die Geschichten einfielen, diese wunderbar schrägen Geschichten, ihre eigenen, diese Sylvie-und-Konni-Geschichten. Da konnte sie nicht mehr zurück. Sie haben früh geheiratet, aber nie eine Ehe wie die anderen führen wollen, „ernst und stumm und nachtragend“. Sie wollten nie seriös sein und sind es noch immer nicht. Jutta Voigt denkt daran, wie sie von der Empore des Prager Hotels Europa die Gäste mit Papierkügelchen beworfen haben, es ist noch nicht lange her: „Sie guckten immer wieder nach oben. Dabei saß dort oben niemand außer uns, sie sahen es genau, aber sie konnten sich’s nicht vorstellen.“

Und am Tag ihrer goldenen Hochzeit sprechen sie über Fruchtfliegen. Ob sie wüsste, dass der Mensch nur zwei Gene mehr habe als die Fruchtfliege, fragt er. Sie vermutet, dass er zwei weniger habe. Sie fallen auf in der kleinen Enoteca von Venedig, denn sie geht gern in Lokale, die sie sich mit Mitte zwanzig ausgesucht hätte. Da ist man längst eingesponnen in die Seinsweise von Sylvie und Konni, hat schon fast vergessen, dass man hier ein Buch übers Altwerden und Altsein liest, und eine Frage dämmert an den Rändern des Bewusstseins: Sollte die wahre Jugend gar nicht am Anfang des Lebens, sondern an seinem Ende liegen? „Wie lange leben Fruchtfliegen eigentlich?“

Sylvie und Konni also. Die Autorin heißt Jutta Voigt, ihr Buch „Spätvorstellung. Von den Abenteuern des Älterwerdens“. Sie fiel zuletzt mit den archäologischen Erkundungen „Der Geschmack des Ostens. Vom Essen, Trinken und Leben in der DDR“ und „Westbesuch. Vom Leben in den Zeiten der Sehnsucht“ auf. Jutta Voigt ist eine lebenslange Zeitungsfrau, in der DDR war sie bei „Sonntag“ und „Wochenpost“ für den Dauernachweis zuständig, dass Journalismus, dass Stil im Sozialismus möglich ist. Journalisten sind Menschen, die im Zweifelsfall nichts fantastischer finden als die Wirklichkeit. Aber wie viel Jutta genau ist in Sylvie?

Natürlich können wir drüber reden, sagt sie. Am besten im „Sowohlalsauch“. Das „Sowohlalsauch“ ist ein Café im Prenzlauer Berg, bei ihr um die Ecke. „Ich darf mein Gesicht nicht unbeaufsichtigt lassen, dann fällt es wer weiß wohin“, heißt es im Kapitel „Aus dem Leben einer älteren Dame“. Diesmal Ichform, ungeschützt. Ja, zu dieser Selbstvorstellung hat sie sich entschlossen. Schreiben als angewandte Grausamkeit: „Wenn du deinen Hals glätten willst, zieh ihn lang, wie wenn ein Pferd Blätter vom Baum frisst.“

Journalismus ist das, was grundsätzlich in fremdes Fleisch schneidet? Sie hat das nie geglaubt. Jedes ihrer wunderbaren Porträts und Reportagen bewies das Gegenteil. Der Schnitt muss auch ins eigene Dasein gehen. Aber wie weit zu weit?

„Ja, jetzt bin ich alt. Das war der Preis des Buches“, sagt Jutta Voigt und schaut aus dem Fenster, während der fremde Blick ihren Hals vermisst. Was ausgesprochen ist, ist in der Welt. „Wörter schaffen Wirklichkeit“, heißt es in „Spätvorstellung“. Wer das nicht glauben würde, begänne nie zu schreiben. Sie hält den Kopf nicht in Huftierweidepose, ihr Hals hat das nicht nötig. Aber unwahrscheinlich viel Metall liegt darum, seine Maße sprengen das Wort Kette. Ein verrutschter Lorbeerkranz? Jedenfalls Laub, wahrscheinlich ein Ablenkungsmanöver aus Gold, eine List. Hervorheben, um zu verbergen! Unwillkürlich denkt man an die Gürtel-Stelle in „Spätvorstellung“. Ein Verkäufer empfahl ihr ein besonders breites Exemplar mit ungeheurer Schnalle als altersgerecht, doch ihre Tochter fragte nur: „Sadomaso, Mama?“

Aber solche Stellen täuschen. Jutta Voigt ist nicht die Frau des Grellen, sie ist eine Meisterin der Übergänge, eine Virtuosin der Verdichtung. Ihre Generation trägt „das Heulen der Sirenen in den Genen“, und doch war niemals eine jünger. Der Rock ’n’ Roll gehört denen, die heute siebzig sind. Und kein Ort steht so sehr für die Jugend des Mädchens Jutta wie der Saalbau im Prenzlauer Berg.

In den Zwanzigern hatten sich Walter Ulbricht und Joseph Goebbels Redeschlachten dort geliefert, aber das war ihr egal; jede Generation beginnt wieder ganz von vorn, es war ihr „Saalbau“. Manchmal fängt Jutta Voigt das Aroma einer ganzen Jugend in einem einzigen Satz ein: „Wenn das Küchenfenster offen stand, vermischte sich der Geruch nach Glätt-Frisiercreme mit dem nach gemahlenen Knochen, der von Machmüller, dem Schlachter über den Hof hochzog, zu einem Duft, den Sylvie ihr Leben lang nicht vergaß, den Saalbauvorfreudeduft.“ Altwerden bedeutet wohl, dass keine neuen Düfte mehr hinzukommen, überlegen wir. Und dass man welche verlieren kann: „Sobald es Frühling wurde, erfasste mich früher eine wilde Freude, dass es die Welt gibt und die Maiglöckchen und einen neuen Anfang. Ich warte jedesmal auf dieses Gefühl, aber es kommt nicht.“

Das „Sowohlalsauch“ entspricht schon dem Namen nach Jutta Voigts Grundeinsichten ins Leben und dessen Spezialfall, das Alter. Etwa dem, dass niemand, der alt ist, nur alt ist. Denn da ist immer noch das Kleingedruckte der Seele. Und das der Gesichter. Wenige können darin besser lesen als sie. Man braucht eine ganz eigene Sprache dafür, und diese Frau hat sie.

Sylvie und Jutta. Der eine Name kann fliegen, der andere nicht. „Sylvie – das bin ja nicht nur ich“, sagt Jutta. Sylvie ist eine Ich-Erweiterung, ein mal näher, mal ferner gerücktes Selbst. Und dieses Ich hat auch Echos. Konni und Sylvie bilden den Rahmen, dazwischen öffnen sich die Echoräume: Altersporträts von Freunden, auch Jüngere sind dabei. Alle hätten einen anderen Namen wählen können. „11 von 17 wählten den eigenen, das hat mich selbst erstaunt“, sagt Jutta Voigt. „Spätvorstellung" – späte Selbstvorstellung, letzte Vorstellung – diese Assoziationen sind gewollt.

„Wir sind alle zugleich Kinder, Mütter, Väter, Großmütter und Großväter, parallel“, hat sie geschrieben. Der Ich-war-nie-jung-Tag verharrt zur Illustration vor dem „Sowohlalsauch“-Fenster in seinem unschlüssigen Zugleich. Oder ist es ein Weder-Noch? Voigt mustert die Tortentheke. Da steht eine Sechziger-Jahre-Buttercremetorte neben einer jugendlichen Himbeertarte. Sollte das „Sowohlalsauch“ doch ein Selbstbetrug sein? Wir schauen schnell nach draußen.

Es ist ihr Viertel. Sie ist hier geboren und aufgewachsen. Sie hat es nie verlassen. Und nun wird sie hier alt. Vielleicht spürte sie es zum ersten Mal, als sie auf der Straße Bill Haley hörte, und die Lärmquelle war ein Altersheim. Früher zerfielen die Häuser, und sie war jung. Nirgends war man jünger als in den alten Häusern. Irgendwann hat sich diese Tendenz umgekehrt. Und dann plötzlich waren nicht nur die Straßen neu, sondern auch die Menschen, fast keiner älter als 39. Selbst in den Cafés nicht.

Das „Sowohlalsauch“ ist nicht ihr Lieblingscafé. Dorthin nimmt sie niemanden mit. Da will sie die einzige Alte sein. Kürzlich sind Sylvie und Konni noch einmal umgezogen, im selben Haus. Weniger Platz für mehr Miete, Prenzlauer Berg eben. Aber sie wollte einen Balkon, mit der Unbedingtheit, mit der man in der Jugend etwas will. Nur wenige können das begründen wie sie: „Die Sehnsucht nach einem Balkon ist die Sehnsucht nach einem Leben, aus dem man sich hinauslehnen könnte.“ Ein Buch ist das Gleiche.

Jutta Voigt: Spätvorstellung. Von den Abenteuern des Älterwerdens. Aufbau Verlag, Berlin 2012. 252 Seiten, 19,99 €.Lesung: Cafe Sybille, Karl-Marx-Allee 72, 13.3., 19.30 Uhr

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