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Kultur: Das Kreuz mit der Erinnerung

Kitsch oder historische Notwendigkeit? Zum Versuch, am Berliner Checkpoint Charlie der Maueropfer zu gedenken

1065 schwarze Holzkreuze haben schlagartig eine Diskussion wiedereröffnet, die seit langem eingeschlafen war, wenn sie denn jemals mit Verve geführt worden ist: die Diskussion um das Erinnern an das Zwangssystem der DDR und die Opfer von Mauer und Schießbefehl. 1065 schwarze Holzkreuze, versehen mit den Namen der Toten, hat Alexandra Hildebrandt, die Leiterin des privaten Mauermuseums, auf gepachteten Grundstücken an der Stelle errichten lassen, die in aller Welt zum Synonym der DDR- Grenzbefestigungen geworden war: dem früheren Checkpoint Charlie.

Mit der Öffnung der Mauer in den Abendstunden des 9. November verlor eine der widerlichsten, weil bürokratisch perfektioniertesten Grenzbewachungen ihren Schrecken. Das Horrorgebilde des Betonwalls wurde alsbald zur Beute der „Mauerspechte“; der helle Klang der Hämmer legte sich als durchdringender Ton auf den Winter 89/90.

Die Diskussion über die Erinnerung an die DDR als Zwangs- und Unrechtssystem, das seine visuelle Gestalt in Mauer, Stacheldraht und Todesstreifen gefunden hatte, kam angesichts der sich überschlagenden tagespolitischen Ereignisse nur mühsam in Gang. Während die Bürgerrechtler der untergehenden DDR darangingen, Stasi-Amtsstuben und -Gefängnisse als Gedenkstätten zu sichern, fielen die Berliner Mauer und die innerdeutschen Grenzbefestigungen einer Art kollektiver Amnesie anheim. Die spontane Freude über die Grenzöffnung ebenso wie die angestaute Wut über dieses so lange erduldete Zwangsinstrumentarium wurden von einer quer durch alle Parteien getragenen Politik der stillschweigenden Beseitigung begleitet.

Den Gedanken, dass der Wunsch der DDR-Geschädigten nach symbolischem Regimesturz dem Interesse der zahllosen DDR-Funktionsträger nach Tilgung aller Spuren vorzüglich in die Hände spielte, hätte man 1990 als frivol empfunden. Und doch war es so. Was diese ungleiche Interessenkoalition beförderte, war der Wunsch der Bundesregierung, sichtbare Erfolge ihrer Wiedervereinigungspolitik vorweisen zu können: Die Schnittkante dieser Unterschiede aber war die Grenze.

Als das Nachdenken über die angemessene Form des Erinnerns an die deutsche Teilung begann, war ihr symbolträchtigstes Zeugnis bereits beseitigt: die Berliner Mauer. Mag auch der Grenzverlauf an den meisten Abschnitten noch auf Jahrzehnte hinaus erlebbar bleiben – durch die eklatanten Unterschiede in der benachbarten Bebauung, wenn nicht gar durch Brachflächen –, so ist das Geschichtsdenkmal der Grenzbefestigung selbst verschwunden. An der 1961 dramatischsten Stelle des Mauerverlaufs, der Bernauer Straße im vom Bombenkrieg vergleichsweise unversehrten Norden der Innenstadt, musste Mitte der Neunzigerjahre eine Mauergedenkstätte mit Hilfe eines Architektenwettbewerbs erschaffen werden, um von Aussehen und Bedrohlichkeit der Grenzbefestigungen wenigstens eine Ahnung zu geben.

Ihrerseits könnte diese Gedenkstätte kaum sprechender sein, hegt sie doch das sorgfältig rekonstruierte Stücklein Grenzstreifen in seitliche Stahlwände ein. Nicht als niemals zu übersehender Teil des Berliner Alltags wird die Mauer erinnert, sondern als quasi-archäologische Fundstätte, die es gegen jedweden Gebrauch zu schützen gilt. Ihre Aussagekraft bleibt gering. Die privaten Mauerkreuze hingegen machen in ihrer Drastik unmissverständlich deutlich, was es – auch – zu erinnern gilt: die Opfer eines Herrschaftssystems, das für die Aufrechterhaltung seines Grenzregimes weit über 1000 Menschenleben forderte.

Mit der deutschen Einheit ist ein Problem erneut auf die Agenda gerückt, das sich in der alten Bundesrepublik bereits erledigt hatte: das der Erinnerung an eine Geschichte, deren Protagonisten und deren Erbe noch mitten unter uns sind. Dieses Problem hatte sich nach 1945 gestellt, als es galt, das – ungleich gewalttätigere und umfassendere – NS-Regime zu erinnern. In diesen Tagen gibt beispielsweise die Ausstellung zum 40 Jahre zurückliegenden Frankfurter Auschwitz-Prozess Gelegenheit, an Verdrängung wie auch schmerzliche Rückerinnerung zu rühren, die die Bundesrepublik bis in die Achtzigerjahre begleitete, ehe die NS-Zeit mit dem Dahinsterben ihrer Zeugen Geschichte zu werden begann.

Aus diesem Vorgang bildete sich, über Jahrzehnte hinweg, jene Geschichts- und Erinnerungskultur, wie sie in zahlreichen Gedenkstätten Gestalt gewonnen hat und im kommenden Jahr von der zentralen Gedenkstätte des Berliner Holocaust-Mahnmals gekrönt werden wird. Spätestens nach dem Historikerstreit von 1986/87 waren die Formeln des politisch korrekten Erinnerns geprägt. Die stets beschworene Unvergleichlichkeit der NS-Verbrechen schien der Gefahr zu entheben, jemals anderer Untaten gedenken zu können oder gar zu müssen.

Mit dem Zusammenbruch der DDR und des gesamten Ostblocks wurden Ideologie und Herrschaftssystem sozialistischer Provenienz zum gesamtdeutschem Erbe. Darauf war die alte Bundesrepublik so wenig vorbereitet wie das „Beitrittsgebiet“ der soeben vergangenen DDR. Für die Erinnerung an das Unrechtssystem im Osten Deutschlands fehlte die notwendige Grundlage: ein nationaler Konsens, wie er sich hinsichtlich des NS-Regimes im Laufe von Jahrzehnten herausgebildet und befestigt hatte.

Von diesem Konsens ist das vereinte Deutschland heute so weit entfernt wie je seit 1989. Der spielerische Umgang mit symbolisch hoch aufgeladenen Relikten des SED-Staates wie etwa dem „Palast der Republik“ demonstriert ein erstaunliches Maß an Geschichtsvergessenheit.

Es fehlt augenscheinlich an der Fähigkeit, unterschiedliche historische Ereignisse und Unrechtstatbestände zu erinnern und ihrer jeweiligen Opfer zu gedenken, ohne zum einen die Maßstäblichkeit zu verlieren noch andererseits das individuelle Leid zu missachten. Das Ausmaß der NS-Verbrechen hat diese Fähigkeit beschädigt. So ist die Erinnerung an historische Katastrophen vor 1933 nahezu erloschen. Das historische Gedächtnis reicht kaum darüber hinaus. Allerdings hat der 80. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, dieses einst als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bewerteten Ereignisses, unlängst gezeigt, dass das Abreißen einer in die Gegenwart hineinreichenden persönlichen Zeugenschaft, dass die vollständige Historisierung ein solches Geschehen neu und anders vorstellbar macht, bis hin zu einem Wiedererwachen von Empathie.

Demgegenüber liegt die DDR historisch noch in nächster Nachbarschaft. Millionen früherer DDR-Bürger bewahren die Erinnerung ihrer eigenen Biografie – mit dem Wunsch, dieses eigene, gelebte Leben nicht unter dem Vorzeichen eines historischen Urteils entwertet zu sehen. Die Tendenz zur Verharmlosung des DDR-Regimes beruht auf diesem kollektiven Bewahrungswunsch, der naturgemäß einhergeht mit der Ausblendung, ja aggressiven Abwehr jeder Kritik.

Es würde allerdings ungemein helfen, diesen Vorgang als Wiederholung jener „Unfähigkeit zu trauern“ zu erkennen, der die Frühzeit der Bundesrepublik begleitete. Jetzt sind es die Zeitzeugen der DDR, die in ihrer Mehrzahl Trauer und selbst Anteilnahme verweigern. Wie 1945 oder selbst 1918 fand eine kollektive Aufarbeitung des vorangegangenen Unrechtssystems nicht statt; dass die Justiz dieses Versäumnis nicht ausgleichen konnte und die wenigen ergangenen Urteile eher symbolischen Charakter trugen, versteht sich nach den Erfahrungen der frühen Bundesrepublik von selbst.

Mit der sorgfältig gestalteten, allseits konsensualen Senats-Mauergedenkstätte Bernauer Straße hatte nun auch das Gedenken eine Form gefunden, die es aus dem Alltagsleben verabschiedete. Die Provokation der Mauerkreuze am Checkpoint Charlie besteht eben darin, dass sie die Geschichte in den Alltag zurückholen und persönliche Gefühle ansprechen. Das kann man, wie die „Grünen“, als „Erinnerungskitsch“ abtun. Man kann aber auch damit beginnen, die Erinnerung an die Berliner Mauer mit ihren 1065 Toten als notwendigen, als konstitutiven Teil der deutschen Kollektiverinnerung zu begreifen – und endlich eine Form zu finden, die der Monstrosität des 28-jährigen SED-Grenzregimes Rechnung trägt: politisch, ästhetisch und – emotional.

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