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Kultur: Das Paradies ist ein Fliegenschiss

„Tristan da Cunha“: Raoul Schrott erzählt die Geschichte einer Inselwelt

Flache Scheiben im Blau des Pazifik, üppiges Grün, Pflanzen und Früchte in unerschöpflicher Fülle, dazu ein paar Menschen, die sich um unser Wohlergehen kümmern: So sehen die Inselträume des Durchschnittseuropäers aus. Die Insel aber, die der 39-jährige Österreicher Raoul Schrott auf den 700 Seiten seines Romans entwirft, hat nichts damit gemein. Sie ist das Gegenteil aller Inselträume und rührt doch an dieselbe Sehnsucht: Nähe und Ferne in jenes ausgewogene Verhältnis zu bringen, das den Kontakt mit der Welt erlaubt, ohne darin unterzugehen.

Tristan da Cunha ist ein aus vier Inseln bestehendes Archipel im Südatlantik. Schroff überragt ein riesiger Vulkan die namengebende und einzig bewohnte Hauptinsel, deren Küste nur an wenigen Stellen zugänglich ist. Die Vegetation ist karg, das Leben mühsam. Im Dreieck zwischen Brasilien, Südafrika und der Antarktis gelegen, ist dieser von allen anderen menschlichen Ansiedlungen am weitesten entfernte Punkt kaum mehr als ein Fliegendreck auf der Landkarte. Und das wäre er ohne die Magie seines Namens wohl auch geblieben: Tristão da Cunha hieß der Portugiese, der die Insel 1506 entdeckt hat. Der Name bedeutet also eigentlich nichts, und dennoch lässt sich damit etwas anfangen.

Darin steckt bereits das Erzählprogramm dieses gigantischen Romanprojekts: Seht her, ich werde euch beweisen, dass ich einen Fliegenschiss im Ozean so genau und schön und tiefgründig beschreiben kann, dass daraus die ganze Welt entsteht! „Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde“ beschert dem Leser das seltene Erlebnis, ganz in der Lektüre aufzugehen. Ein Buch wie dieses ist auf eine sehr sinnvolle Weise exklusiv. Es wirbt nicht, es feilscht nicht, es buhlt nicht um des Lesers Gunst. Es ist einfach da. Wer bereit ist, einem solchen Artefakt wie einem Naturgegenstand zu begegnen, es also einfach hinzunehmen, wie es ist, der begibt sich auf eine Reise besonderer Art. Es übt sich im Da-Sein, es reizt die Spanne aus, die uns die Sprache als Möglichkeit anbietet: hier zu sein, in einem raumzeitlichen Kontinuum, und zugleich in der Ferne. Nicht zuletzt deshalb ist dies ein großer Roman: weil er an diese menschliche Fähigkeit appelliert und sie zugleich zum Gegenstand hat.

Wie macht das der Autor? Er nimmt diesen Punkt, den es wirklich gibt, er versetzt ihn in Schwung, gibt ihm eine Drehung, eine Art Wirbel bildet sich, der saust einmal quer durch die Zeiten, bis dahin, wo unser Bild von der Erde als Globus entstand, er öffnet sich nach oben, dorthin, wo der Götterhimmel zu Kants „gestirnten Himmel über mir“ geworden ist und schließlich zur „bloßen Zielscheibe“ von Teleskopen und Satelliten. Und bei dieser Bewegung fällt einiges ab. Lauter Erzähltableaus wie Inseln, auf denen Menschen sitzen, die miteinander verbunden sind. Den stürmischen Anteil dieser Genesis markieren Textabschnitte von einer knappen Seite, die die großen Erzählblöcke dieses Romans in eine Gesamtdramaturgie einspeisen. In den Blöcken selbst geht es ruhiger zu. Dort findet die eigentliche Geschichte statt, die Schrott aus vier Ich-Perspektiven erzählt.

Drei Männer und eine Frau machen sich aus unterschiedlichen Gründen und zu verschiedenen Zeiten Notizen. Da sind die Briefentwürfe, die der anglikanische Priester Edwin Heron Dodgson Ende des 19. Jahrhunderts an seinen Bruder, den Mathematiker und Schriftsteller Lewis Carroll, schreibt. Sie erzählen vom gescheiterten Versuch, die aus sieben Familien bestehende Einwohnerschaft Tristan da Cunhas zu missionieren. Der Engländer Christian Reval wird im Zweiten Weltkrieg als Funker auf der Insel stationiert, wo er sich in eine lebenslange Liebe verstrickt. Die Liebesgeschichte zwischen ihm und der von einer irländischen Insel ausgewanderten Marah folgt dem Tristan-Motiv und ist gleichwohl mehr: Sie ist das geheime Zentrum des Buches, weit, weit nach hinten geschoben (Revals Geschichte wird als einzige rückwärts erzählt), und sie hält so traumsicher die Balance zwischen Konkretion und Imagination, dass schon sie es lohnt, das ganze Buch zu lesen. Den historischen Kontext, von der Entdeckung im Jahr 1506, über die Besiedlung ab 1810, bis zum Vulkanausbruch 1961 und der Rückkehr der Bewohner, liefert der in Irland lebende Briefmarkensammler Mark Thompsen.

Die vierte Figur ist nicht nur durch ihr Geschlecht hervorgehoben, sondern auch durch die Rahmenhandlung. Noomi Morholt, eine südafrikanische Wissenschaftlerin, die ein Jahr lang in einer Forschungsstation in der Antarktis überstehen soll, entdeckt eine Kiste mit Aufzeichnungen, die für das Museum auf Tristan da Cunha gedacht war, dort aber nicht entladen wurde. In der Gegenwart des Jahres 2003 liest sie die Aufzeichnungen der drei anderen Hauptfiguren. Ein etwas billiger Trick, um die Erzählfäden zu verknüpfen, dessen Sinn gleichwohl einleuchtet. In der totalen Abschottung der Antarktis-Station wird sie zur Leserin und Kommentatorin männlicher Sehnsüchte. Während die neun Männer, mit denen sie die Enge der Station teilt, mehr und mehr dem Container-Koller verfallen, findet sie in den Schriften die Reinform männlicher Imagination und unterzieht sie einer barschen Kritik. Wie Handels- und Kriegsschiffe über die Jahrhunderte hinweg gleichsam die Nabelschnur bildeten, die Tristan da Cunha mit der übrigen Welt verbindet, so hat allerdings auch Noomi Morholt einen Anker außerhalb der Station. Sie tauscht mit einem brasilianischen Schriftsteller E-Mails. Die Schönheit seiner Worte und Projektionen genießt sie, auch wenn sie deren Machart bis ins Letzte durchschaut und seinen Imaginationen nicht entgegenkommt. Dieser Schriftsteller namens Rui bildet von der Anlage des Romans her den Mittelpunkt zum Quadrat der anderen Figuren. Er vertritt die poetologische Position des Autors.

Noomi Morholt ist der wunde Punkt des Buches. Mit ihr schreibt Raoul Schrott die kritische Position seinem eigenen Romanwerk ein: Welcher Autor möchte sich schon sagen lassen, er reproduziere unhinterfragt Männerfantasien, und das sind schließlich all die Eroberungssehnsüchte von fernen Inseln und unnahbaren Frauen. Deshalb neutralisiert Schrott den Blick seiner weiblichen Hauptfigur auf grausame Weise. Er lässt Noomi Morholt eine Totgeburt erleiden.

So fragwürdig das ideologisch sein mag, so richtig ist es strukturell: Ein Kompliment kann man nicht kritisieren. Und dieses Buch ist ein einziges Kompliment ans Imaginäre, an die Fähigkeit, die Wirklichkeit mit Sprache zu verzaubern. Seine unendliche Detailiertheit wird nicht geschwätzig, sie bildet vielmehr den Kontrapunkt zur Sprachlosigkeit des gewöhnlichen Reisenden, der seine Wahrnehmung nicht zu artikulieren versteht. Gletscher, Meere, Vulkane, Gesteinsbrocken, man lässt sich deren Beschreibung gefallen, immer und immer wieder, weil Schrotts Sprache diesen Roman trägt, eine niemals zuckrige, sondern eher herbe, schroffe Poesie. Mit epischem Atem und lyrischer Wortgenauigkeit entsteht so ein Tableau an Welt-Bildern, vom makroskopischen Blick auf die Erde als Globus, bis zum mikroskopischen Blick ins kleinste Detail. „Tristan da Cunha“ handelt vom Wunsch nach Sesshaftigkeit in Zeiten der Globalisierung. Er lotet aus, wie groß der Kreis sein muss, den ein Mensch um sich schlägt, damit er in der Welt zuhause sein kann.

Raoul Schrott: Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde. Roman. Hanser, München, 2003. 718 S., 25,90 €.

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