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Internationale Filmfestspiele von Venedig: Das Spiel vom Zufall

Bei der Mostra dominieren in diesem Jahr intensive, düstere Dramen. Wenn man aus den 18 Wettbewerbsfilmen eine Globaldiagnose filtern wollte, dann steht es schlecht um unseren Planeten: überall Heilsversprechen, die sich als Sackgassen entpuppen, aber keine Alternative, nirgends

Eigentlich passt „Passion“, der am Freitag im Wettbewerb präsentierte Thriller von Brian De Palma, nicht recht in den Mainstream dieser 69. Mostra von Venedig. Das elegante, wenn auch etwas öde Remake von Alain Corneaus „Crime d’amour“ spielt in einer modernen, metropolitanen Gegenwart – kurioserweise in Berlin, als gelte es, die nahezu totale Abwesenheit des deutschen Films wenigstens zum Finale prominent vergessen zu machen. Sein Titel deutet zudem nicht auf Jesu Leidensgeschichte, sondern auf – überwiegend lesbische – Leidenschaften, denen Rachel McAdams als Werbefirmenchefin und Noomi Rapace sowie Karoline Herfurth als ihre Angestellten einiges Feuer zu geben trachten. Und schließlich: „Passion“ ist cooles Genrekino, schick auf der großen Leinwand und später immer noch dekorativ auf nächtlichen Privatkanal-Sendeplätzen.

Eines aber eint diese Studie über bitterböse Jobrivalitäten unter schönen Frauen mit vielen in Venedig präsentierten Filmen: „Passion“, so düster wie klaustrophobisch, führt schnurstracks in eine Szenerie, aus der man sich bestenfalls mit Gewalt befreien kann. Von geschlossenen Gesellschaften allenthalben erzählten die Regisseure, von religiös gesteuerten oder auch sozial eisern kontrollierten Familien, in denen oft die junge Generation brutal das Nachsehen hat. Ja, wenn man aus den 18 Wettbewerbsfilmen kühn eine Globaldiagnose filtern wollte, dann steht es verdammt schlecht um unseren Planeten. Überall ideologische Heilsversprechen, die sich als Sackgassen entpuppen, aber keine Alternative, nirgends. Und überall wenn schon nicht die Apokalypse, so doch die seltsamsten Enden der Welt.

Da tut es gut, wenn ein kluger, kleiner Film, der zum Festivalende womöglich alle überragt, der Düsternis dazwischenfunkt. Dabei spielt Brillante Mendozas „Thy Womb“ selber am Ende der Welt, auf der philippinischen Insel Tawi-Tawi. Romantiker mögen die aufs Meer hinausgebauten Holzhütten, deren Bewohner vom Fischfang leben, sogleich paradiesisch finden. Und auch Mendozas Blick badet, zeitweise ethnografisch/anthropologisch, in der Farbenpracht der allseits ausgelegten Bastteppiche und in prunkenden Hochzeitsritualen nach islamischem Brauch. Doch das Leuchten trügt: Mitten in dieser Idylle entwickelt sich eine leise Tragödie.

Eigentlich haben die Eheleute Shaleha (Nora Aunor) und Bangas An (Bembol Rocco) alles, was sie zum Glücklichsein brauchen: Gesundheit, eine Hütte, ein Boot, freundliche Nachbarn und eine in langen Jahren gewachsene, tief verlässliche Zuneigung zueinander. Nur kann Shaleha, die als Hebamme arbeitet, keine Kinder bekommen; zum Trost bewahrt sie nach Entbindungen die Nabelschnüre auf. Eines Tages beschließt sie, ihrem Mann zwecks Zeugung von Nachkommen eine junge Zweitfrau zu suchen. Der hohe Brautpreis ruiniert das Ehepaar nahezu, und bald muss Shaleha einen weiteren, noch schmerzhafteren Preis zahlen. Gesprochen wird wenig in „Thy Womb“, alles ist Handlung, Blickwechsel, irgendwann Blickvermeidung, allenfalls ein Schimmern in den Augen.

Niemand sagt „Ich liebe dich“, niemand nimmt von niemandem Abschied. Und doch ist das Opfer, das Shaleha bringt, gewaltig. Zugleich plädiert der Film mitten in der engstmöglichen Befolgung gesellschaftlicher und religiöser Regeln und absolut unpathetisch für eine universelle Hoffnung, die alles überstrahlt. Christlich gesagt: Die Liebe höret nimmer auf. Oder auch: Wo wir leben, ist Zufall, und wie wir leben. Sofern wir lieben. Derlei Weitungen des Blicks ließen die Beiträge dieser 69. Mostra selten zu. Meist sind es die religiös geprägten Alltagswelten, ob in Christentum, Judentum oder Islam, die den Figuren kaum Spielraum lassen. Womöglich hatte Festivalchef Alberto Barbera, indem er das Publikum immer wieder zu Bußgängen im Kinosaal nötigte, genau diese Mahnung im Sinn: Wohin treibt unsere Welt, wenn wir dem global wachsenden Fundamentalismus nichts Substanzielles entgegensetzen?

Die stärkste Substanz ist der Zweifel, sie setzt allerdings das Wagnis des eigenen Wegs voraus. Tatsächlich wirken am nachhaltigsten jene Filme, die zu dieser Unbequemlichkeit herausfordern. Die katholische Betschwester in Ulrich Seidls „Paradies: Glaube“ hadert am Ende mit ihrem Gott, und Allah, den ihr zurückgekehrter Mann anbetet, ist auch keine Alternative. Der von Joaquin Phoenix in Paul Thomas Andersons „The Master“ verkörperte Gefolgsmann eines Sektenführers entdeckt, nachdem er aus dem fast sklavischen Verhältnis entlassen ist, sexuelle Erfüllung mit einer wunderbar unerschrockenen, unerschreckbaren Frau. Und in Marco Bellocchios „La bella addormentata“ spielt Toni Servillo einen Senator, der sich, mitten in der von der katholischen Kirche angeheizten Hysterie um einen Sterbehilfe-Fall, gegen die opportunistische Berlusconi-Parteilinie stellt.

Bellocchios Film ersäuft bald im Schaumbad sentimentaler Nebenhandlungen, brachte aber – die große Ausnahme – politische Virulenz und aktuelle Relevanz an den Lido. Denn Italien ist mit dem Tod Eluana Englaros, der im Februar 2009 die Nation entzweite, offenkundig noch nicht fertig – Protestler behaupteten prompt, „La bella addormentata“ bringe die junge Frau, die nach 17 Jahren im Koma auf Antrag der Familie und infolge eines Gerichtsbeschlusses sterben durfte, zum zweiten Mal um. Dabei argumentiert der ansonsten geschwätzige Film im Rücktrittsgesuch des fiktiven Senators äußerst konzentriert: Wer Lebensverlängerung um jeden Preis fordert, stellt sich im Zweifel gegen die Liebe.

Anderswo dominierte, gern in bildmächtigem Rahmen, eine gewisse Gedankenarmut – und wenn es um Religion ging, dann opferte sie am liebsten die Kinder. Der Koreaner Kim Ki-duk richtet, in „Pietà“, einen mutterlos aufgewachsenen Schuldeneintreiber mitleidlos hin. Als seine Mutter auftaucht und ihre Schuld bekennt, erkennt auch der Sohn das Unmaß eigener Schuld, und die metaphorische Blutspur wird im Finale grausam konkret. In Ramin Bahranis US-Drama „At Any Price“, mit Dennis Quaid in der Hauptrolle, nutzt ein Maisfarmer die Schuld seines eskapistischen Sohnes, um ihn in die Familiendisziplin zurückzuzwingen. Und die bekennend orthodoxe Jüdin Rama Burshtein gibt in ihrem Debüt „Fill the Void“, dem einzigen massiven Missgriff dieses Festivals, der todunglücklichen Verheiratung einer 18-Jährigen weihevoll ihren Segen.

Und das Festival? 1932 unter Mussolini gegründet, feierte es – nach verschiedentlichen Jahrgangsausfällen – nun sein virtuelles 80. Jubiläum. So alt sieht es auch aus. Der für vier Jahre verpflichtete Festivalchef Alberto Barbera hat zu seinem Start zwar einen kleinen Filmmarkt neu installiert, von nennenswerten Abschlüssen aber war nicht die Rede. Auch die Renovierung der Filmsäle und sonstiger Strukturen am Lido geht nur langsam voran. Zudem entvölkerte sich das Festival wie gewohnt in der zweiten Hälfte: Viele Akkreditierte fliegen nach Toronto weiter, wo die Musik der US-Majors und Oscar-Aspiranten spielt. Und im Hintergrund droht immer mächtiger das Festival von Rom: Im November richtet es erstmals der vielgepriesene Marco Müller aus, der zuletzt acht Jahre die Mostra geleitet hat.

„Zwanzig Jahre Immobilismus“ diagnostizierte Alberto Barbera vor Festivalbeginn für das, was er am Lido vorfand. Nach diesem Jahrgang der ziemlich gemischten Gefühle gilt: Es braucht extrem viel Tatkraft – und noch mehr Geld –, um den alten Tanker wieder flottzukriegen. Nochmal zwanzig Jahre hat Venedig nicht. Allenfalls fünf.

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