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Kultur: Das stille Örtchen

Sie war das kleinste Fertighaus der Welt, und sie war überall. Langsam verschwindet das Telefonhäuschen aus dem Stadtbild. Wer geht heute noch in die Zelle?

Sie tun es immer noch: Erpresser gehen in Telefonzellen. Erst neulich rief eine Frau aus einer öffentlichen Zelle das Hilton-Hotel in Berlin an und sprach eine Bombendrohung aus. Den Fixstern des deutschen Städtebaus, der nachts hell leuchtet — wer braucht ihn sonst schon? Haben doch alle Handys. Gehen in die Zellen nur noch Verunfallte, Arme und Fetischisten? Es könnte so aussehen, bei einem oberflächlichen Rundgang durch die Stadt.

Wie bei einem schiefen Gähnen stehen ihre gelben Türen sinnlos offen und laden niemanden mehr ein. Sie sind entbeint, verplombt, aus ihren Mündern dringt kein Wort mehr. Sie stehen vereinzelt, wo sie früher in Haufen standen. Nur an wenigen zentralen Orten reißt das Gespräch nicht ab. Die Telefonzellen, einmal optimistisch gelb, sind erst grau geworden, nun magern sie ab und werden zu Säulen ohne Lärm- und mit sehr wenig Wetterschutz. Für eine Chronologie der Typen muss man im Museum für Kommunikation anrufen, das die Häuschen vor dem Vergessen bewahrt. Die Telekom weiß nur, dass es in Deutschland etwa 110 000 öffentliche Telefone gibt, und dass 55 000 bis 56 000 davon ein Häuschen haben. Aber niemand kann sagen, wie viele davon gelb, wie viele grau sind, und wo schon eine dieser neuen Säulen steht.

Dennoch: Was sich da langsam aus dem Stadtbild schleicht, ist eine gesellschaftliche Erscheinung: Mitten in der Stadt, auf öffentlichem Gelände gibt es einen Quadratmeter potenzieller Privatheit. Ein Fertighäuschen für den Preis eines Ortsgesprächs. Jeder kann mitten auf dem Gehsteig eine Tür hinter sich zuziehen.

Ein blonder Automechaniker mit Brille ruft seine Oma an, der es auch schon mal besser ging. Nicht wundern, wenn es gleich abbricht, sagt er zur Oma, ich bin in der Telefonzelle. Und wer in der Zelle steht, ist nicht mehr der, der eben noch auf der Straße ging. Es ist eine private Person und keine öffentliche. Und das ist genial: Wer in die Zelle geht, verwandelt sich von einer bewegten Figur in eine anonyme Stimme. Der Film macht sich das zunutze und spielt mit der öffentlichen Harmlosigkeit des Telefonierenden. Erpresser und Agenten nutzen diese Anonymität für ihre Zwecke.

Die Moabiter Turmstraße ist ein Phänomen. Irgendwann wird die Telekom hier Eintritt verlangen, denn fast alle Generationen der deutschen Telefonzelle sind hier in großen Mengen versammelt. Sie stehen in Grüppchen zusammen wie bei einer Party: die gelben mit den geschwollenen Ecken, die aktuelle grau-magentafarbene und die historisch anmutende Sonderedition mit den weißen Sprossenfenstern. Eine rote, englische Zelle steht als Überraschungsgast vor dem Bezirksamt. Hier leben viele Menschen, die mehr Zeit haben als Geld. Es wird immer welche geben, die sich kein Handy leisten können.

In der Turmstraße ist der bevorzugte Aufenthaltsort der Männerhände die Hosentasche. Frauenhände schließen sich um einen Telefonhörer. Den ganzen Tag, mehr als anderswo. Das sagt jedenfalls der Percussionist Khokon aus Bangladesh, der gerade aus der historisierenden Telefonzelle tritt. „Freunde kommen zu mir und beklagen sich, dass ihre Frau für 300 Euro im Monat telefoniert.“ Er sagt ihnen dann, dass es hier allen so geht und sie selber schuld sind, denn sie sind es ja, die die Grenzen um ihre Frau ziehen. „Die Kinder sind in der Schule, gegessen hat sie schon – was soll sie machen?“ Khokon sieht, dass die Frauen sich den ganzen Tag über die Angebote der Kaufhäuser austauschen und dass das alles ein unhaltbarer Zustand ist, eigentlich, aber die Lebenswirklichkeit vieler ausländischer Frauen im Land. Das Telefon ist ihre Lebensader. „Wir müssen uns alles mitteilen,“ sagt Khokon über die Asiaten. „Ob ich ein gutes Essen gegessen oder mir etwas Schönes gekauft habe.“ Dazu brauchen sie eine Telefonzelle. Khokon zuckt die Schultern. „Früher musste man immer warten vor einer Zelle“, sagt er. Das ist vorbei.

Es wird still auf dem Pflasterstreifen an der Ecke Waldstraße, wo man alle städtischen Bedürfnisse befriedigen kann: Es gibt eine City-Toilette, einen Postkasten, einen Taxistand, einen Mülleimer und zwei Telefonzellen mit Spitzdach und Sprossenfenstern. Auf dem Quadratmeter Zelle geht die Welt ein und aus. Was man nicht sieht, ist, wie vier Nachbarinnen in Bangladesh am anderen Ende der Leitung um ein Telefon sitzen und ihr Essen vernachlässigen. Was sollen die machen, wenn es in Berlin einmal nur noch Telefonsäulen und -hauben gibt? Was hat Bangladesh davon, wenn in Zukunft hauptsächlich die Busse der Turmstraße zu hören sind?

Es sei noch zu früh für einen Nachruf auf die Zelle, sagt Rüdiger Gräve, ein Sprecher der Telekom. Alle Zellen wolle man schließlich nicht ersetzen. Und die, die noch funktionieren, würden im Ersatzteillager aufbewahrt, für Vandalismusfälle. Aber das Telefonieren mit den 15 000 Basistelefonen, die bis Dezember aufgestellt werden sollen, wird nicht mehr das Gleiche sein. Von Basistelefonen sind nur noch Notrufe und Gespräche mit Calling-Cards möglich. Doch das Besondere an der Zelle ist ja, dass sie ein Häuschen ist, ein Quadratmeter mit Tür und Fenstern. Und weil so viele dringliche Anliegen in diese Kabinen getragen werden, sind die Orte beseelt. Die Kabine stellt nicht nur eine Funktion bereit, sondern hat als Ort selbst einen Charakter.

Zugegeben, dieser Charakter kann eine gewisse Penetranz entwickeln. Jedenfalls wenn noch die besondere Privatsphäre des Vorgängers in der Kabine haftet. Ein Geruch oder die Wärme, die noch die Zelle füllt. Auf eine Art tritt hier jeder über den Hörer in Körperkontakt mit dem vorherigen Benutzer.

Für die Telekom lohnen sich die Häuschen in Moabit, denn in dieser Gegend ist der Gang in die Zelle noch Alltag, kein Notfall. Jedenfalls wenn man das Leben von Cherif Hassine nicht als einen Notfall bezeichnen will. „Ich bin ein armer Mensch“, sagt er und zieht die schweren Schultern hoch. Er hat keinen Festnetzanschluss zu Hause, denn der ist zu teuer. Ein Handy trägt er in der Tasche, hat aber keine Karte. „Für die 15 Euro kriege ich 30 Liter Milch für meine fünf Kinder“. Er regelt alle Telefonate aus der Zelle. Gerade hat er mit seinem Bruder gesprochen. Es ist fast wie zu Beginn der Zellenkultur.

Seit dem 12. Januar 1881 in Berlin benutzen Menschen ohne eigenen Anschluss die Zelle. Am Anfang kauften sich die Leute am Postschalter für 50 Pfennig fünf Minuten Gesprächszeit. Ab Mitte 1889 konnte man direkt in den Apparat Geld einwerfen, was die Leute dermaßen ausgiebig nutzten, dass ein Emailleschild für die Häuschen entworfen werden musste: „Fasse dich kurz!“ Nach der Wende 1989 hätte man die Schilder in den Zellen im Osten der Stadt ohne Probleme wieder aufhängen können – einen Privatanschluss hatten dort die wenigsten. Jetzt haben 65 Millionen Deutsche ein Handy.

Trotzdem ist es nicht so, dass heute niemand mehr in die Zelle gehen würde. Es sei nur so, dass diese Zellen preislich überhaupt nicht mehr konkurrieren können, sagt Khokon, der Percussionist aus Bangladesh. Jedenfalls nicht mit Calling-Cards, und mit den Tele-Cafés für internationale Verbindungen schon gar nicht. Wer von einer Telefonzelle aus ins europäische Ausland telefoniert, zahlt 60 Cent die Minute, ein Gespräch in die Türkei oder die Vereinigten Staaten kostet immer noch 90 Cent die Minute.

Aber wenn es regnet, wie jetzt, sind auch Handybenutzer dankbar für das Dach. Ein guter Tag für Telefonzellen. Die Türen der Häuschen unter dem Lindenbaum schwingen auf und zu. Morten Kretschmer, ein Tischler mit Klecksen an der Hose, ruft seinen Chef an. Sein Handy ist kaputt. Für diesen Fall hat er immer eine Karte in der Tasche. An den Säulen müsse man halt lauter sprechen, sagt er.

Der rigorose Vater von Nadine Cheibe hat zu Hause die „0“ gesperrt, weil sie 13 ist und infiziert mit dem Virus: akute Telefonitis, wie so viele. Handys kann sie von zu Hause nicht mehr anrufen. Sie ist nicht die erste, die ihre Pubertät in einer Telefonzelle verbringt, den familiären Ohren entflohen. Nadine wird es nicht mehr wissen, aber das Glück des Erwachsenwerdens war für andere Generationen einmal unendlich. Für 20 Pfennige konnte ein Ortsgespräch so lange dauern, bis niemand mehr etwas zu sagen wusste. Das ging bis Anfang der 80er Jahre so. Dann führte die Telekom den Takt ein und verteilte Sanduhren, damit man sehen konnte, wenn nach acht Minuten eine neue Einheit anbrach. In diesen Zellen saß man nun und musste über Stunden mit einer begrenzten Zahl von Körperhaltungen auskommen. Mit angezogenen Knien auf den Telefonbüchern zu hocken, war noch eine der ausgefalleneren. Draußen ging manchmal demonstrativ einer auf und ab, die Entschlosseneren klopften an die Scheibe. Kinder suchten in den Münzfächern nach Kleingeld und setzten es in Wassereis um. Wann hat das eigentlich zuletzt jemand getan?

Gieslinde Sobczyk ruft den alten Mann an, den sie betreut. Soll ich etwas mitbringen? Sie kommt aus einer Zeit, „als noch nicht alles kaputt gemacht wurde“. Die Zellen, sagt sie, stinken ihr schon lange. Sie kann die Telekom verstehen. Wäre sie nicht so weitsichtig, und könnte sie die Tasten erkennen, auch sie würde ein Handy benutzen.

Wer die Telefonzelle heute schon vermisst, betrauert meist ihr unbeflecktes Ideal. Die real existierende Zelle sieht anders aus. Ungefähr fünf bis sechs Millionen Euro kostet die Reparatur der Telefonzellen in Deutschland. Sie sind eine leichte Beute, stehen wehrlos am Straßenrand und haben ein bisschen Geld dabei. Vandalismus ist für die Telekom das Ausschlag gebende Argument für den Einsatz der Säulen und die Abschaffung der „Fertighäuschen“, Baukosten 7500 Euro, Wartung je nach Standort einmal im Monat oder drei Mal die Woche. Die Reinigung entfällt bei den Säulen eigentlich komplett, sagt die Telekom. Und ein Basistelefon zu installieren kostet bloß noch 500 Euro.

Die, die noch in die Zellen gehen, haben die merkwürdigsten Gründe. Eine bürgerliche Dame in ihren Siebzigern, deren Blase sich öffnet, wann es ihr beliebt, hat die Angewohnheit entwickelt, sich im Winterurlaub in Telefonzellen zu hocken, die von hohen Schneewehen umgeben sind. Hätte sie je einer erwischt, es hätte niemand geglaubt. Einmal deponierten Unbekannte das Kalb „Max“ in einer Darmstädter Telefonzelle auf Stroh. Keiner weiß, wieso. Manche müssen hin, um eine Karte abzutelefonieren, deren Datum abläuft. Um im Trockenen einen Schauer abzuwarten. Um zu testen, wie viele Menschen in eine Zelle passen. Um einen Spaß mit ihr zu treiben. Reicht das alles, um ihre Existenz zu rechtfertigen?

Die Telekom muss praktisch denken. Schließlich gibt sie Aktien aus. Alle haben jetzt ein Handy, stellt sie fest, staunend, als würde sie nicht selber Handys verkaufen. Aber die Umsätze an vielen Orten sinken. Die Zellen appellieren an den falschen Sinn: Oft kann man in ihnen mehr riechen als hören. Die Regulierungsbehörde verlangt nur alle drei Kilometer ein öffentliches Telefon. Von einer Zelle ist keine Rede. Und so leuchten die Zellen oft sinnlos im Dunkeln und sind in der Hauptsache nur noch Notrufsäulen.

Vielleicht hatte Marshall McLuhan Recht. McLuhan war der kanadische Anglist, den manche für einen Spinner hielten, andere wiederum für den Magier der Medientheorie. In den 60er Jahren sagte er, alle Werkzeuge und Apparate des Menschen seien Verlängerungen der menschlichen Funktionen und Sinne: Das Rad verlängert das Bein, die Brille das Auge, der Hammer den Arm, der Computer das Nervensystem und das Telefon die Ohren. Nachdem diese Prothesen lange außerhalb des Körpers vor sich hin existierten, werden sie dem Menschen jetzt auf den Leib geschrieben. Die Kopfhörer finden ihren Weg ins Ohr. Und das Handy, so demonstrativ wie die Zelle diskret war, wird in ständigem Körperkontakt gehalten. Mensch und Maschine kommunizieren über Fingerdruck und leichtes Vibrieren. Ist also die Telefonzelle nur ein weiteres überholtes Gerät? Landet es bald im Gerätehimmel neben dem Grammophon und dem Hörrohr?

Die Benutzer der Zellen sind von der Banalität ihres Tuns überzeugt. Nur Architekten und Stadtsoziologen proben in kleinen Essays kleine Aufschreie. Sind es nicht viel eher die Betrachter als die Benutzer der Zellen, die in der Stadt ästhetisch verwaisen? Man hat ihnen ein Stadtmöbel genommen!

Aber es können ja auch nicht alle so einschneidende Erlebnisse mit der Zelle verbinden wie Arno Funke. Funke, alias „Dagobert“ flüsterte vor mehr als zehn Jahren aus wechselnden Telefonzellen seine Forderungen in die Muschel. Insgesamt ein paar Millionen hätte er gern. Darauf ist er heute nicht mehr angewiesen. Man kann ihn problemlos über sein Handy erreichen: Fahrgeräusche im Hintergrund. Der Mann ist wieder unterwegs. Telefonzellen also, haha, sagt er. Man kann sich vorstellen, dass für einen wie Funke von allen Zellen die Telefonzelle noch die angenehmste ist. Nein, er habe kein Trauma davongetragen. Entgegen verbreiteter Annahmen wurde er ja nicht i n, sondern v o r einer Telefonzelle in Berlin-Johannisthal geschnappt. „Da war ich schon mindestens 20 Meter davon entfernt.“ Ausgerechnet er, der Tüftler, so haben sie nicht ohne Häme geschrieben, habe die digitale Rückverfolgungstechnik unterschätzt, mit der die Polizei innerhalb kürzester Zeit einen Anruf orten kann. Funke sagt heute, er habe das doch gewusst. Die richtig guten Erinnerungen stammen aber aus seiner Jugendzeit. „Ständig verliebt“ und außer Reichweite von Mithörern, stand er dauernd in der Telefonzelle. „Vielleicht habe ich da drin sogar geknutscht“, sagt Arno Funke. „Wer weiß.“

Wenn nicht einmal die kleine Minderheit der Erpresser und Entführer sich noch auf die Loyalität der Zelle verlassen kann, wer braucht sie noch? Vielleicht ist „brauchen“ das falsche Wort. Und am Ende wird es sein wie mit der D-Mark: Zuerst geht ein Aufschrei durch das Land. Die Rede ist von Kultur und Identität, von Verlust. Es wird eine Weile Phantomschmerzen geben, aber dann vermisst den stechenden Geruch der Häuschen schon niemand mehr. Die Melancholiker unter uns bemerken ein leichtes Unwohlsein. Aber das ist nicht weiter schlimm, sie sind so veranlagt. Dann wird es sein, als hätte es Telefonzellen nie gegeben.

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