zum Hauptinhalt
Die Schriftstellerin Kristina Schilke, geboren 1986 im russischen Tscheljabinsk.

© Tanja Kernweiss/Verlag

Debütroman "Elefanten treffen": Kein Ort, in dem der Bär steppt

Im fiktiven Kurort Waldesreuth wuchert die Langeweile wie Brennesseln. Sie treibt die Bewohner in Kristina Schilkes gelungenem Prosadebüt „Elefanten treffen“ in Extreme.

Großstadt oder Provinz – dieser Gegensatz zieht sich schon seit über hundert Jahren durch die deutschsprachige Literatur. Lieferten Gegenwartsautoren in letzter Zeit bis zum Abwinken immer neue Berlin-Romane, scheint das Pendel nun wieder in die andere Richtung auszuschlagen, siehe zum Beispiel Juli Zeh mit ihrem „irgendwo in Brandenburg“ spielenden Roman „Unterleuten“ oder Saša Stanišiks 2014 veröffentlichter, mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneter und ebenfalls in Brandenburg angesiedelter Roman „Vor dem Fest“. Ein in AfD-Zeiten durchaus naheliegender Trendwechsel: Schließlich gilt die Provinz, nicht nur die ostdeutsche, seit jeher als Brutstätte menschlicher Abgründe und Albträume.

Mit Kristina Schilke zieht es eine Debütantin aufs Land. Für ihren Erzählband „Elefanten treffen“ hat die 1986 im russischen Tscheljabinsk geborene Autorin einen niederbayerischen Kurort namens Waldesreuth erfunden. Was für eine gebürtige Russin nicht gerade ein naheliegender Schauplatz zu sein scheint. Aber die 30-Jährige ist genau an solch einem Ort aufgewachsen, nämlich in Grafenau im Bayerischen Wald, wo sich ihre Familie nach ihrer Auswanderung 1994 niederließ.

Grafenau, Waldesreuth: keine Orte, in denen der Bär steppt. In Schilkes Waldesreuth leiden Altenheimbewohner, sofern sie nicht über die Marienerscheinungen in ihrer Jugend grübeln, unter der „unnatürlichen Dehnbarkeit des menschlichen Lebens“, wie in der Geschichte „Das Leben in diesen Tagen“. Und Ungeborene müssen erst überredet werden, auf die Welt zu kommen. Das allerdings auf die denkbar schönste Weise: nämlich mit den sphärischen Klängen, die von fliegenden Tauben produziert werden, an deren Schwanzfedern der Pfarrer Schellen bindet (in „Der große Wunsch“).

Dreizehn Geschichten, jede mit einem anderen Ich-Erzähler

Dreizehn Geschichten enthält Schilkes Debüt, jede mit einem anderen Ich-Erzähler. Fast alle von ihnen, Heranwachsende ebenso wie Erwachsene, leiden an Langeweile. „Die Sicherheit, die Langeweile, Waldesreuth war voll davon, genauso wie die Brennnesseln überall einfach so wuchsen und einen beim Wandern an den Waden stachen.“ Wer auf diese Weise lange genug gepiesackt wird, begeht am Ende womöglich eine folgenreiche Verrücktheit. Wie Thom, der Altenpfleger, der sich vor lauter Begeisterung über ein gewonnenes Fußballspiel ans Tor hängt und, als dieses auf ihn fällt, erst sein Gesicht verliert, dann seine Beziehung (in „Man wüsste es sonst nicht“).

Oder wie die Lehrerin Carli in „Diejenigen, die kriechen“, die sich in ihrer Kindheit vor den Augen ihrer entsetzten Eltern etwas in den Mund steckte, was dafür nicht gedacht war: „Die Idee dahinter: Hier ist die Weihnachtsbaumkugel. Hier bin ich. Und da ist die große, weite Langeweile. Warum nicht die ersten beiden miteinander kombinieren?“

Narben, äußere wie innere, tragen viele von Schilkes Protagonisten, und wer noch keine abgekommen hat, beschäftigt sich nur umso intensiver mit Krankheit und Tod. In „Das seltsame Tier“ erzählen sich die wohlstandsverwahrlosten Schülerinnen Lisa und Lara, quasi zur Erholung vom konzentrierten Nägellackieren, gegenseitig Horrorgeschichten von wuchernden Tumoren bei Nachbarn oder Bekannten. Reale Klatschgeschichten oder nur „grausame Märchen“?

Die Handlungen überschneiden sich

Der Titel von Schilkes Erzählband spielt auf ein legendäres Bikertreffen im Bayerischen Wald an, aber auch auf den sprichwörtlichen Elefanten im Raum, den ihre Figuren in ihrer Einsamkeit nicht sehen können. Da hilft ihnen weder ein Aufenthalt in der gut besuchten Tagesklinik St. Johannesweide noch der Besuch der Selbsthilfegruppe „Anonyme Cutilis“. Fremd, wie sich Schilkes Figuren sind, vermeiden sie im Bad den Blick in den Spiegel, aus Angst vor dem, was sie dort sehen könnten.

Andere erwachen nachts im Pyjama auf fremden Hotelfluren aus ihrer Absenz wie Frieda in „Geringe Unterschiede“. Das Schlafwandeln der Schülerin ist die Folge einer unglücklichen Liebe, und zwar zu einem Igel. Große Gefühle werden in Waldesreuth eher von Tieren als von Menschen evoziert. Herbert in der Geschichte „Das Leben in diesen Tagen“ zum Beispiel trauert mehr um seine Wasserschnecken als um seine Großmutter: „Sie hießen Herbert senior und Herbert junior“.

Für sich genommen scheinen sich manche von Schilkes Erzählungen zunächst in der puren Skurrilität zu erschöpfen. Doch wird bald offensichtlich, dass die Texte miteinander zusammenhängen, dass Figuren unvermutet wiederkehren oder durch Perspektivwechsel plötzlich in anderem Licht erscheinen. Das erinnert an Ingo Schulzes „Simple Stories“ (1998) „aus der ostdeutschen Provinz“, von deren lakonischer Wucht sich Schilkes Erzählungen aber durch ihren leichten, manchmal schwarzhumorigen Ton unterscheiden. Reizvoll ist nicht nur, wie sich in „Elefanten treffen“ Handlungen überschneiden, sondern auch, wie die Zeit Haken schlägt: Längst zur kollektiven Erinnerung gewordene Ereignisse können in späteren Erzählungen plötzlich Gegenwart werden – wie in einer Geschichte der nächtliche Mord an einem Obdachlosen in der vermeintlich sicheren Neubausiedlung.

Ein vielversprechendes Debüt

Von schöner Ironie ist dabei die einzige Zeugin. Denn die junge Mutter, die von ihrem Wohnzimmerfenster erst gebannt die Tat beobachtet, dann sogar in aller Ruhe die Leiche aus der Nähe inspiziert, ist die Frau eines Soldaten, der gerade wieder einmal irgendwo auf der Welt für Sicherheit sorgt. Alles in allem ein vielversprechendes Debüt.

Kristina Schilke: Elefanten treffen. Erzählungen. Piper Verlag, München 2016. 224 Seiten, 18 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false