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Der amerikanische Schriftsteller Don DeLillo, 84

© IMAGO/LEEMAGE

DeLillo-Roman "Die Stille": Die Welt nach dem digitalen Totalabsturz

Schwarzes Rauschen, Wissenschaftsvokabular und Alltagsblabla: Don DeLillos Weltuntergangsroman "Die Stille".

Irgendwo in Chile, etwas genauer, so wie es Don DeLillo will: in Nordmittelchile, noch genauer: achtzig Kilometer östlich der am Pazifik liegenden Zwillingsstädte La Serena und Coquimbo, da befindet sich in 2200 Meter Höhe das reale CTIO, das Cerro Tololo Inter-American Observatory mit einem Komplex von astronomischen Teleskopen und Instrumenten.

„Irgendwo in Chile“ lautet in DeLillos neuem, sehr schlanken Roman „Die Stille“ (Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 106 Seiten, 20 €.) gleich mehrmals ein Stummelsatz, der gleichbedeutend ist mit der Lokalisation des „Großen synoptischen Musterungsteleskops“. Einmal ist einer der fünf Figuren dieses Romans, der pensionierten Physikprofessorin Diana, nicht mehr klar, warum sie eigentlich „Irgendwo in Chile“ sagt: „Das bedeutet wohl irgendwas, aber sie weiß nicht mehr was.“

Ihr einstiger Student, der Physiklehrer Martin, erklärt es ihr noch einmal: das Große synoptische Musterungsteleskop! Aber recht weiter kommen sie nicht – denn die Welt ist im Begriff unterzugehen, zumindest die digitale Welt.

"Dunkle Energie, Phantomwellen, Hack und Gegen-Hack"

Wenn der große US-amerikanische literarische Visionär und Apokalyptiker Don DeLillo am Werk ist, bedeutet jeder Satz irgendwas. Nur was genau, bleibt gern mal offen. Die Grenzen zwischen Hellsicht und Geraune verschwimmen bei DeLillo zuweilen, gerade in diesem Roman, der zunächst ein gleichermaßen dystopisches wie realistisches, zeitnahes Setting hat: den digitalen Systemabsturz 2022.

Hier, bei Tessa und Jim, so beginnt „Die Stille“, kommt es zu einem Flugzeugabsturz, einer Bruchlandung in Newark; dort, in Manhattan, bei Max, Diana und ihrem Gast Martin zu einem Fernsehbildschirmausfall. Die fünf New Yorker wollten zusammen das Super-Bowl-Finale schauen, und dann beginnt das Chaos, digital, auf den Straßen. Und bei DeLillo heißt es: „Digitales Wettrüsten, drahtlose Signale, Gegenüberwachung“. Oder: „Dunkle Energie, Phantomwellen, Hack und Gegen-Hack“. Oder: „Wellenstruktur, metrischer Tensor, kovariante Eigenschaften." Auch Albert Einstein kommt vor, dessen Bonmot von einem Vierten Weltkrieg, der seiner Einschätzung nach wieder mit Stöcken und Steinen ausgetragen werde. Oder Celsius, Faraday, Joyce.

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Und wieder ist es Diane, die das Sprechen von Martin als „Blabla“ einordnet. Doch auch Tessa zeigt Jim einmal die Hand, als dieser von einer möglichen Weltneuordnung spricht, „und klappt die Finger auf und zu, die Geste für Alltagsblabla.“ Ob Don DeLillo sich mit solchen Einschüben über seine eigene Prosa lustig macht? Er davor warnen will, ihn allzu ernst zu nehmen mit seiner Mixtur aus Wortgeklimper, Untergangsgeraune und Wissenschaftsvokabular? Am Ende steht: Chile. Und nichts als: schwarzes Rauschen.

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