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Die französische Schriftstellerin Delphine de Vigan

© Francesca Mantovani/Editions Gallimard

Delphine de Vigans Roman "Die Kinder sind Könige": Immer Sternenküsschen senden

"Guten Morgen ihr Lieben, ich hoffe es geht euch allen gut": Delphine de Vigans digitalkritischer Roman über einen Youtube-Star und ihre Kinder.

Man kennt diese Bilder aus den eigenen Social-Media-Kanälen, beispielsweise Instagram: Aufnahmen mit kleinen Kindern, ohne Effekte, die deren Gesichter verfremden, Urlaubsbilder, Spielplatzschnappschüsse, lustige Alltagsstories. Warum machen sie das, die Freunde, Bekannten und Leute, denen man folgt, die einem selbst folgen, warum setzen sie ihre Kinder den Blicken so vieler Menschen aus?

Ein Unwohlsein beim Betrachten dieser Bilder ist stets dabei.

Die französische Schriftstellerin Delphine de Vigan hat mit „Die Kinder sind Könige“ gerade einen Roman darüber geschrieben (aus dem Französischen von Doris Heinemann, Dumont, Köln 2022, 316 S., 23 €.), was ein paar Klicks und Wischer weiter ja auch in der Wirklichkeit in seinen professionellsten Formen besichtigt werden kann: eine Geschichte über eine Frau, die aus ihrem Leben, vor allem aus dem ihrer beiden noch kleinen Kinder eine Reality-Soap macht und damit viel Geld verdient.

Mélanie Diore, geborene Claux, so heißt diese Frau, die früher selbst einmal in einer Reality-Show mitgemacht hat, aber ohne Erfolg, Sammy und Kimmy ihre Kinder, acht und sechs Jahre alt.

"Filme dich beim Öffnen dieses Päckchens!"

Auf dem Youtube-Kanal „Happy Récré“ hat Mélanie Diore inzwischen fünf Millionen Abonennten. Die verfolgen, was Sammy und Kimmy jetzt wieder so machen, wie süß beide sind, was sie für Klamotten tragen, was sie alles an Produkten auspacken, was für Challenges sie veranstalten, womit sie spielen.

Doch eines Tages, und das setzt die Romanhandlung früh in Gang, verschwindet Kimmy spurlos nach einem von keiner Kamera verfolgten Versteckspiel mit anderen Kindern draußen in der Wohnanlage der Diores. Vermutlich ist sie entführt worden.

Das bestätigt sich, als nach drei Tagen ein Brief bei Mélanie und ihrem Mann Bruno eintrifft. Darin ein Foto von Kimmy, der in ein kleines Seidenpäckcken verstaute Fingernagel eines Kindes und die in Großbuchstaben geschriebene Aufforderung an Mélanie: „Tu genau, was ich sage, wenn du deine Tochter wiedersehen willst. Filme dich beim Öffnen des Päckchens und veröffentliche das Video.“

Zwei weitere Tage später folgt eine Lösegeldforderung, zu zahlen an die Kinderschutzorganisation „Enfance en danger“.

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Delphine de Vigans gesellschafts- und digitalkritischer Roman trägt also durchaus die Züge eines Krimis. Das unterstreicht die französische Autorin formal damit, dass sie in ihre Erzählung regelmäßig – auch typografisch abgesetzte – polizeiliche Verhörprotokolle mit ihrer trockenen, ausschließlich der Information dienenden Sprache bettet.

Aber auch sonst lebt de Vignas Roman literarisch primär von dem Stoff, der hier behandelt wird, das war schon in den Vorgängerromanen dieser Autorin so, „Loyalitäten“ und „Dankbarkeiten“.

Ungebrochene Persönlichkeit

Mehr noch als ein Kriminalroman ist „Die Kinder sind Könige“ ein Gruselroman, gerade für Eltern von kleineren Kindern, ein mehr als realistischer Horrorthriller über eine Frau und ihre Kinder, deren Realität allein von sozialen Medien bestimmt wird: von Likes, Followerzahlen, künstlichen Ansprachen („Guten Morgen meine Lieben, ich hoffe, es geht euch allen gut..., ich wünsche euch eine sehr gute Nacht und sende euch lauter Sternenküsschen“) und den Verhandlungen mit den Firmen, die bei „Happy Récré“ ihre Produkte platzieren wollen.

Obwohl Mélanie nach der Entführung ab und an Zweifel an ihrem Tun kommen, bleibt sie bis zum Schluss des Romans eine überzeugend ungebrochene Persönlichkeit.

Nicht so überzeugend ist die Figur, die de Vigan in doch langen Passagen ihrer Mélanie entgegen stellt: die Clara Roussel. Sie hat keine Kinder, lebt allein, kennt die digitale Welt kaum und arbeitet gewissenhaft und mit aller Akribie.

Clara kommt aus dem Staunen oft nicht raus darüber, was sich ihr in den Storys und Posts von „Happy Récré“ darbietet, inklusive dem durch kleine Gesten und entsprechende Gesichtsausdrücke zu spürenden Widerwillen Kimmys, unentwegt von einer Kamera gefilmt zu werden.

Nicht dass Clara das personifizierte Gute, die Verantwortung in Person wäre - trotzdem steht sie hier für zu viel Goodwill und Ausgleich.
Die ausschließliche Perspektive von Mélanie Diore, die Welt in den sozialen Medien ohne analoges Gegenüber, all das hätte diesem nichtsdestotrotz lesenswerten Roman noch radikaler gemacht. Dafür scheint Delphine de Vigan der Mut gefehlt zu haben.

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