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Georgi Gospodinov, 46.

© Dafinka Stoilova/Droschl

Georgi Gospodinov: Der Dickschädel des Minotauros

Damals, in Bulgarien: Georgi Gospodinovs labyrinthischer Erinnerungsroman „Physik der Schwermut“ .

Er ist das Aushängeschild der bulgarischen Literatur, spätestens seit 2007 hierzulande sein „Natürlicher Roman“ erschienen ist. Georgi Gospodinov haftet nichts vom Mief der schreibenden Söhne und Töchter der einstigen Shivkov-Nomenklatura an, deren Zöglinge einander noch weit über die neunziger Jahre hinaus die Stipendien zuschoben. Er hat auch nichts gemeinsam mit den Effekthaschern und Ostalgikern, die aus der Hydra des sozialistischen Realismus hervorgingen.

Einflüsse von Italo Calvino und Daniil Charms, Velimir Chlebnikov und den Beatniks, von Jorge Luis Borges und Fernando Pessoa mischen sich bei ihm mit der brutalen Balkanwirklichkeit von heute. Seit 1990 regiert in Bulgarien unter wechselnden Parolen eine sich karussellartig drehende Riege altsozialistischer Clans. Gospodinov rührt an alte Wunden und erinnert das Land an eben jene Geschichte und Geschichten, von der es lieber nichts wissen will.

Der 1968 geborene Autor hat eine ganz gewöhnliche Kindheit in einer ganz gewöhnlichen bulgarischen Provinzstadt erlebt. Seine ersten Erfolge erzielte er in den neunziger Jahren mit Gedichten, die sich durch lakonischen Sprachwitz und eine verhaltene, manchmal sarkastische Melancholie auszeichnen. So heben sie sich vom pathetischen Dissidententum der Vorgängergeneration ab und treffen gleichzeitig den Nerv einer Zeit, in der sich entweder gar nichts tat oder alles kurz und klein geschlagen wurde, was es verdient gehabt hätte, weiter zu bestehen.

Als poetischer Chronist ist Gospodinov der Held der weitgehend von politischer Teilhabe ausgeschlossenen bulgarischen Jugend geworden, die den Sozialismus nur noch aus seinen fortdämmernden Resten und den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern kennt. Und erst recht weiß kaum noch einer im heutigen Bulgarien, wie es vor dem 9. September 1944 dort ausgesehen hat, dem Tag der kommunistischen Machtübernahme.

Genau hier schaltet Georgi Gospodinov sich ein: Das Einzige, was uns zu denkenden und fühlenden Wesen macht, was uns mit der Welt der Eltern und Großeltern, mit der im Strudel der Zeit verschwindenden eigenen Kindheit verbindet, ist die Erinnerung. In den zahlreichen Kapseln und Kartons der Literatur soll sie vor dem Zerfall bewahrt werden. Gospodinov hat dieser Erinnerung an den sozialistischen Alltag bereits einen aus vielen Interviews zusammengetragenen Katalog und ein virtuelles Museum gewidmet. Sein neuer, in der deutschen Übersetzung von Alexander Sitzmann erschienener Roman „Physik der Schwermut“ setzt diese Recherchen auf sehr persönliche Weise fort. Mit seinem literarischen Erfindungsreichtum, seiner Fülle an Details, skurrilen Gedanken und Abschweifungen hat sich Gospodinov in die erste Reihe europäischer Gegenwartsautoren katapultiert.

Gospodinov erschafft Epiphanien des Beiläufigen, Verworfenen und Zufälligen

„Physik der Schwermut“ handelt von dem Ur- oder Protolabyrinth aller späteren Labyrinthe, dem vom Minotauros bewachten minoischen Labyrinth, das Theseus mithilfe des Ariadnefadens durcheilt. Die Geschichte wird überliefert durch Ovid und andere, und immer ist es der von der Minos-Tochter Pasiphae geborene Sprössling mit Menschenleib und Stierkopf, den es als Monstrum zu verbergen oder, wie bei Theseus, zu überwinden gilt. Dieser Überlieferung verweigert Gospodinov seinen Gehorsam. Er versucht nämlich, den Mythos zu korrigieren, ihn für die Gegenwart umzuschreiben und dem Minotauros alle Schrecken zu nehmen, die ihm gewöhnlich nachgesagt werden. Gospodinovs Minotauros ist ein zartes Menschenkind mit balkanischem Stierschädel, der das Labyrinth der Erinnerungen hütet.

Der Erzähler selbst ist ein Minotauros in seinem Labyrinth. Die Figuren, die an ihm vorbeiziehen, ähneln ihm allesamt und kommen doch aus verschiedenen Zeiten an seinen finsteren Ort. Da ist der Großvater als dreijähriges, von der Mutter vergessenes Kind, der Vater als vegetarischer Veterinär, das ungarische Mädchen, das den Großvater als Soldat bei sich beherbergt, dann wieder die 93-jährige Urgroßmutter auf dem Land, die von ihrem Sohn, eben dem Großvater, gepflegt wird, und schließlich die eigene dreijährige Tochter, für die der Minotauros eine besondere Art von Dinosauros verkörpert.

Angereichert ist dieses labyrinthische Erzählen um ein Archiv der Erinnerungen des Protagonisten an vier Lebensjahrzehnte, an die Stagnation der siebziger und achtziger Jahre, die Turbulenzen der Neunziger, die Lethargie der Gegenwart. Bestandteil dieser Erinnerungen sind alle möglichen und unmöglichen Listen. Frühstücksvariationen in diversen Hotels in aller Welt, Orte, die um drei Uhr nachmittags trostlos wirken oder auch eine Liste der nicht haltbaren Dinge: Äpfel, Quittengelee, alte Lieben ... So schafft Gospodinov Epiphanien des Beiläufigen, Verworfenen, Zufälligen, Randständigen und Liegengebliebenen, aus denen wiederum neue Geschichten und Erzählanfänge hervorgehen.

An der Decke sieht er Berge, später Frauenkörper

Der Erzähler berichtet zum Beispiel von einem in Finnland erlittenen Trauma, das ihn für Monate ans Bett fesselt und die Welt neu erfinden lässt. „Ich rufe mir die endlosen Nachmittage der Kindheit in Erinnerung, mit denen wir in jenem ‚Damals’ der Kindheit so großzügig beschenkt waren, als ich auch mit offenen Augen dalag und nach oben starrte, während die kaum sichtbaren Risse und Unebenheiten der Decke begannen, sich in seltsame Berge und Meere zu verwandeln, auf denen ich in die Ferne davonsegelte. Einige Jahre später würden die Berge und Meere sich auf magische Art in Hüften, Schenkel, Brüste und ovale Umrisse von Frauen verwandeln. Je unebener und unvollkommener die Oberfläche ist, desto mehr Schiffe und Frauen birgt sie in sich.“

Solche kleinen erzählerischen Kapseln sind es, mit denen die „Physik der Schwermut“ sich gegen das Vergehen der Zeit wappnet. Auf der Titan-Disc der Voyager, die inzwischen unser Sonnensystem verlassen hat, befindet sich auch ein bulgarisches Volkslied, das die Außerirdischen im Falle einer Begegnung zu hören bekommen, wie Gospodinov berichtet. Er fragt sich nun, ob das Lied sie auf die Erde locken könnte oder sie ihr deswegen lieber fernblieben. Würden sie den Minotauros von Georgi Gospodinovs Roman kennenlernen, sie wären wohl hingerissen und würden unbedingt wissen wollen, was es mit diesem „traurigsten Ort der Welt“ auf sich hat.

Held der bulgarischen Jugend.

Georgi Gospodinov: Physik der Schwermut. Roman. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Droschl Verlag,

Graz 2014. 336 Seiten, 23 Euro.

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