zum Hauptinhalt
Frische Ernte. Ein Kind im syrischen Idlib sortiert Patronenhülsen auf einer von der Familie Junaid betriebenen Deponie für Artillerie- und Munitionsreste.

© dpa

Kulturgeschichte: Der Geist des Tastens

Fingerspitzengefühle: Jochen Hörisch versucht sich an einer Kulturgeschichte der Hände.

Es geschah am Lago Maggiore. Der Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann stieg gerade einen Weinberg hinauf, als eine Zwangsvorstellung sich seiner bemächtigte. „Es begann damit, dass sich eine Stufe, ein Mauerstein, eine Weinrebe vor meinem inneren Gesicht in die Arbeit aller der Hände auflösten, denen diese Gegenstände so, wie sie gestaltet waren, ihr Dasein verdankten. Und als ich meine Augen wandern ließ über Bäume, Sträucher, Hütten und Bauten umher, löste sich alles in Millionen, Milliarden und abermals Milliarden von Händen und Handgriffen auf.“ Nicht mehr die Welt, sondern all die Hände drängten sich Hauptmann auf, die zu ihrer Erbauung im Einsatz waren.

Jochen Hörisch, emeritierter Professor für Germanistik und Medienanalyse, zitiert diese Anekdote in seinem Buch „Hände – eine Kulturgeschichte“. Beides ist in ihr enthalten, sowohl Hörischs Forschungsgegenstand als auch das Format. Kulturgeschichten pochen auf die Historizität unserer Gegenwart, das heißt, sie erinnern daran, dass jedes Objekt und unsere Einstellungen und Gefühle zu diesem eine Vorgeschichte haben, dass alles mit Bedeutung aufgeladen ist.

[Jochen Hörisch: Hände. Eine Kulturgeschichte. Hanser Verlag, München 2021. 304 Seiten, 28 €.]

Dementsprechend sind Kulturgeschichten thematisch unerschöpflich, es gibt welche zur Vulva, zur Kriegskunst und sehr viele zur Kartoffel. Diese Studien handeln davon, wie über ein Phänomen gedacht und gesprochen wurde und welchen Wert man ihm beimaß. Das Schreiben einer Kulturgeschichte ist oft motiviert durch eine tatsächliche oder behauptete Krise ihres Gegenstands, insofern dessen Bedeutung brüchig geworden ist und einer Vergewisserung bedarf.

Vernachlässigte Handschrift

Eine solche Krise reklamiert auch Jochen Hörisch mit seiner Klage über die „Handvergessenheit“ unserer digitalen Gegenwart. So verlören klassische Handwerkerberufe in Zeiten des „Akademisierungswahns“ an Ansehen, die Handschrift werde vernachlässigt, und ausgerechnet der Fußball sei der populärste Sport der Welt. Eher die Aneinanderreihung willkürlicher Beispiele denn kühle Analyse begründet das kulturkonservative Seufzen des Autors.

Es mag sein, dass Automechaniker heute vor allem Computerchips auslesen, deshalb aber vom Schwund der Handarbeit zu sprechen, zeugt doch von einem eingeschränkten Horizont, beruht die westliche Entwicklung zur Dienstleistungsökonomie doch auch auf der Auslagerung schweißtreibender Arbeit in den globalen Süden. Die Handarbeit ist also nicht weg, sie findet nur woanders statt.

Und die Handschrift? Sie verschwindet tatsächlich, und mit ihr die Identifikation des Schreibenden mit seinem Schriftbild. Damit muss aber nicht notwendigerweise eine Abwertung der Hand als kreative Instanz einhergehen. So ist das Tippen auf einer Computertastatur ein komplexer organischer Vorgang, zu dem neben der Aneinanderreihung von Zeichen die ständige Korrektur derselben, das Löschen und auch das Einfügen, Ausschneiden und Kopieren gehört.

Das Tippen mag motorisch weniger anspruchsvoll sein als das Schreiben mit der Hand, doch könnte man einwenden, dass die Hände beim Tippen viel eingebundener sind in einen Prozess, der eben kein rein geistiger ist, viel näher dran zudem an der Produktion von Zeichen, immer nur einen leichten Fingerdruck von ihnen entfernt. Ein zeitgenössischer Autor dürfte ohne Computer völlig aufgeschmissen sein.

Ein geistreiches Organ

Es ist erstaunlich, dass Hörisch diesen Zusammenhang von Tastatur und den schöpferisch auf ihr tastenden Händen nicht selbst herstellt, greift er doch gerade die Vorstellung des Körpers als eines bloßen Instruments an. „Die menschliche Hand ist mehr als nur ein verlängerter Arm von Geist, Bewusstsein, Ich, Hirn, sie ist selbst ein geistreiches, sowohl Fremd- als auch Selbstbeziehung ermöglichendes Organ.“

Einerseits beklagt Hörisch also die Handvergessenheit unserer Zeit, andererseits betont er die außerordentliche Bedeutung der Hand. Nicht der aufrechte Gang ist für ihn in der Evolution des Homo sapiens entscheidend, sondern die dadurch frei gewordenen Hände. Erst sie ermöglichten die spezifisch menschlichen Hirnleistungen. Die reine Vernunft wäre damit ohne die Hände nicht zu denken, die Extremitäten rücken in Richtung des Zentrums des Menschen als geistiges Wesen.

Hier könnte es spannend werden, aber der Autor irrt leider äußerst unkonzentriert durch sein Material. Immerhin kommt er mit großer Verlässlichkeit stets bei seinem Herzensthema wieder an: Goethe. Sowohl der Titel als auch der Untertitel des Buchs erweisen sich recht schnell als Etikettenschwindel.

Man darf keine systematische oder chronologische Beschäftigung mit der Hand erwarten, für eine Kulturgeschichte nimmt sich zudem ein fast ausschließlich literaturwissenschaftlicher Ansatz unbefriedigend aus. Im Ganzen ähnelt das Buch einem ausufernden Beitrag zur Goethe-Forschung. Es ist eine ermüdende Lehrstunde, weil sie kaum mehr bietet als eine Aneinanderreihung von Textstellen, Metaphern und Sophistereien.

Hand an sich legen

So habe Goethe im Selbstmörder-Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ auf epochemachende Weise das Motiv ausgestaltet, „dass Menschen anders als Tiere von eigener Hand sterben, dass sie Hand an sich legen können“, während das Drama „Götz von Berlichingen“ analysiere, „was geschehen kann, wenn ein Mensch das Recht in die eigene Hand nimmt und sich über die öffentliche Hand stellt“. Ja, Goethes ganzes Werk wolle wissen, „welche Mächte endliche Menschen in der Hand haben – und inwieweit Menschen ihr Leben selbst in der Hand haben“.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Jochen Hörisch meint eine große Entdeckung gemacht zu haben, indem er die Hand als Leitmotiv im Werk des Dichters identifiziert. Von der bisherigen Forschung sei diese übersehen worden, und zwar „wahrscheinlich deshalb, weil Wendungen um das Wort ,Hand‘ (nicht nur, aber besonders) im Deutschen allzu verbreitet sind, um besonders aufzufallen“.

Vielleicht war es so, vielleicht rühren die vielen Hände in Goethes Werk aber auch schlicht daher, dass er eben auf Deutsch geschrieben hat. Ganz sicher weist diese Kulturgeschichte auf eine Schwäche des allzu offenen Formats hin. Ist der Forschungsgegenstand zu präsent und damit anschlussfähig für Exkurse, besteht die Gefahr, dass der Autor über alles Mögliche schreibt und sein eigentliches Thema auf dem Weg einfach vergisst.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false