zum Hauptinhalt
Die Amsterdam Klezmer Band in Berlin.

© Yuriy Gurzhy

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (27): Der Kuckuck ruft zum Kampf

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er, wie er den Krieg in der Ukraine verfolgt.

27. April 2022

„Wie sieht ein typischer Tag bei Ihnen aus, Mister Gurzhy?“, fragt mich ein amerikanischer Journalist per Zoom. Ich überlege kurz. Meine Tage in den letzten zwei Monaten verlaufen wie ein Film auf fast forward.

Oft habe ich abends Schwierigkeiten, mich an alles zu erinnern, was am Tag passiert ist. Nehmen wir gestern zum Beispiel: Egal, wie schlecht ich schlafe, wache ich sehr früh auf, so gegen fünf. Häufig habe ich Kopfschmerzen und kann nicht sofort aufstehen, ich bleibe im Bett und lese Nachrichten.

Ukrainische Musik fühlt sich nach Therapie an

Ich habe mehrere ukrainischen Telegram-Kanäle abonniert. Was die Ukrainer dort posten, ist oft roh, brutal und das Gegenteil davon, wie „professionelle“ Nachrichten aussehen. Dafür ist es aber gnadenlos real. Man will es vielleicht nicht sehen, aber man sollte – um zu verstehen, was los ist und was auch uns andere Europäer erwartet, wenn dieser Krieg nicht baldmöglichst endet, und zwar mit dem Sieg der Ukraine. Das motiviert!

Gestern bin ich nach nur vier Stunden Schlaf aufgestanden, am Abend davor hatte ich eine Lesung im Panda Platforma. Ich habe aus meinem Buch über jüdische Musik vorgelesen und auch aus meinen neuen Texten über den Krieg, danach habe ich aufgelegt. Ich merke in der letzten Zeit besonders intensiv, wie gut es tut, ukrainische Musik zu hören. Obwohl es Montag war, haben ein paar Menschen getanzt. Das fühlte sich nach Therapie an, viel weniger nach „Disco“.

Ich bin früh aufgestanden, weil es so viel zu tun gibt. Zwei Projekte, mit denen ich mich derzeit beschäftige, sind ein Soli- Konzert und eine Kompilation jüdischer Künstler gegen die russische Aggression in der Ukraine. Ich bin in diesem Fall Kurator und gleichzeitig die Plattenfirma.

Ich sammle die Stücke, höre sie mir an, experimentiere mit der Reihenfolge und verschicke Verträge an die Teilnehmer. Obwohl die Verträge eher symbolische Bedeutung haben, da die Künstler nichts bekommen. Der ganze Gewinn wird gespendet. Mir wird immer mehr Musik zugeschickt.

Mich schreiben auch Menschen an, die ich nicht kenne. In der Nacht kommt eine Mail von Anthony Coleman aus New York. Vor 25 Jahren habe ich gespart, um seine CDs kaufen zu können, heute schreibt er mir: „Hi. Just asking: What are the rules for the Jewish compilation?“

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten zum Krieg in der Ukraine live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Das Konzert, das ich organisiere, soll Teil eines Stream-Marathons werden. Seit Wochen spielen meine Freunde in Charkiw regelmäßig und streamen ihre Konzerte aus dem Schutzbunker online. Damit sammeln sie Spenden für alles, was in Charkiw gebraucht wird. Am 7. Mai macht Berlin mit.

Bei mir haben sich Musikerkollegen gemeldet, ich stelle das Programm zusammen. Leider muss ich selber an dem Tag woanders auftreten, aber ob ich teilnehme oder nicht, spielt letztlich keine Rolle, was zählt, ist, wie viel Geld für meine Heimatstadt wir mit dieser Aktion sammeln können. Im normalen Leben versuche ich Organisatorisches zu vermeiden, aber dieses Mal kümmere ich mich gern um den Ablauf und alles Technische.

Nachmittags mache ich mich auf den Weg zum Kesselhaus – dort spielt die Amsterdam Klezmer Band, ich bin eingeladen, nach dem Konzert aufzulegen. Der Auftritt wurde zweimal verschoben, ein Glück, dass er doch stattfinden kann … aber ein bitterer Beigeschmack ist natürlich auch dabei. Es fällt heute schwer, nicht an die Ukraine zu denken, und wenn man an die Ukraine denkt, vergeht oft der Wunsch, auszugehen.

Alec Kopyt, der mit den Jungs singt und Percussion spielt, kommt ursprünglich aus Odessa. Er ist 1979 nach Australien gezogen, seine Muttersprache ist Russisch. Irgendwann sang er mit der Band einen alten ukrainischen Folksong: „Der Kuckuck“. Seit einigen Wochen gehört das Lied wieder zu ihrem Repertoire.

Mit nur ein paar dazugekommenen Worten hat es Alec geschafft, ein harmloses satirisches Stück mit einem Text, der wahrscheinlich vor 100 Jahren geschrieben wurde, in eine Widerstandshymne umzuwandeln. Sie fängt wie ein apokalyptischer Trauermarsch an, der in ein Kampflied übergeht … und ist damit ein perfektes Statement zur heutigen Situation in Europa.

Lesen Sie hier weitere Teile des Tagebuches:

Yuriy Gurzhy

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false