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Bulliges Ufo: Vor einem der Eingänge der Mercedes-Benz-Arena.

© imago/Andreas Gora

Der Mercedes-Platz und seine Umgebung: Große Verdummungsmaschine

Das Viertel um den Mercedes-Platz am Friedrichshainer Spreeufer und dem Ostbahnhof nimmt Formen an. Nur fehlt es ihm an Identität und Urbanität.

Seit sie 2008 am Friedrichshainer Spreeufer gelandet war, wirkte die erst O–2-, dann Mercedes-Benz-Arena heißende Mehrzweckhalle wie ein bulliges und sehr einsames Ufo. Das Gelände, auf dem sie steht, ist nie schön gewesen. Mit typisch Berliner Wurschtigkeit war hier ausgerechnet die nördliche, also die Sonnenseite des Flusses der Industrie und den großen Bahnsträngen nach Osten überlassen worden. Wobei, so typisch berlinerisch ist das auch wieder nicht. Dass man sich am Wasser erholen kann, ist eine Erfindung des späten 20. Jahrhunderts, in vielen Städten war die Wasserlage historisch ganz selbstverständlich für Verkehr und Produktion reserviert.

Nach dem Mauerfall fiel das Gebiet zwischen Ostbahnhof und Warschauer Straße in einen Schlummer, der zahlreiche Träume gebar – vor allem sexuelle, auf den Technopartys in der Maria oder im Ostgut, das bis 2003 in einem einstigen Güterbahnhof untergebracht war. Nach dessen Abriss retteten sich die Betreiber ein paar hundert Meter weiter in ein ehemaliges Fernheizwerk, das einst die Stalinbauten an der Frankfurter Allee versorgt hatte, gründeten das Berghain und sicherten mit klugen Verträgen dessen Existenz in einem sich rasant wandelnden Umfeld. Denn hier blühten noch ganz andere Träume, Investorenträume. 2001 kaufte die amerikanische Anschutz Entertainment Group das gesamte Areal, auf dem jetzt tatsächlich, erstmals in seiner Geschichte, so etwas wie Stadt entstanden ist. Die Eröffnung war am 13. Oktober. 200 Millionen Euro hat Anschutz investiert, und auch wenn immer noch Bauarbeiter zugange und die Hotels noch nicht eröffnet sind, ist das ganze für Berliner Verhältnisse atemberaubend schnell fertig geworden. Das Ufo ist nicht mehr allein, es hat Brüder und Schwestern bekommen, eine ganze Familie. Aber wer in dem neuen Quartier spazieren geht, merkt schnell: Es ist eine Addams Family.

Malls sind das Gegenteil von Urbanität.

Vor allem die neue East Side Mall, das 69. Einkaufszentrum in Berlin, gibt sich aufmüpfig, macht dem Mutterschiff den Status des Leit-Ufos streitig. Mit dem niederländischen Architekten Ben van Berkel, Erbauer der Erasmusbrücke in Rotterdam, hat sie immerhin einen Schöpfer, der namentlich identifizierbar ist.

Die Mall ist strategisch so platziert, dass sie die Kaufkraft direkt vom S-Bahnhof Warschauer Straße abschöpft. Sie entspringt, wie alle Einkaufszentren, dem Glauben, Menschen könnten nicht aus sich heraus ein lebendiges, lebenswertes Stadtviertel hervorbringen, bräuchten Lebenssinn serviert in Form von Konsum, Event, Bespaßung. Wer die East Side Mall betritt, taumelt, geflasht von lauter Déjà-vus, sofort wieder hinaus. Der vielfältige Planet wird in der Welt der Malls erschreckend klein, schnurrt zusammen zu einer Wohlfühlhölle aus immer gleichen künstlichen Stimmungsdüften und dem Lächeln immer gleicher kapitalstarker Einzelhandelsketten.

Auch hier bestätigt sich die Erkenntnis: Malls sind das Gegenteil von Urbanität. Sie saugen Menschen ein und geben dem Stadtraum nichts zurück, weil sie vollständig nach außen abgeschottet sind. Es sind schwarze Löcher der Stadtentwicklung, auch wenn sie schweinchenrosa angestrichen sind wie am Alexanderplatz. Außerdem: Wirkt es in Zeiten des Klimawandels, den die Malls durch ihren enormen Energieverbrauch zugleich mitbefördern, nicht absurd und unnötig, sich in temperierten Räumen aufzuhalten, wenn gleichzeitig der Winter ausstirbt?

Herzstück des Quartiers ist der Mercedes-Platz nebenan, benannt nach dem Automobilhersteller aus dem Süddeutschen. Der hat als Sponsor bis 2035 die Namensrechte an Platz und Mehrzweckhalle. Eigentümer und Betreiber des Areals bleibt Anschutz. Er wirkt auf den ersten Blick wie ein traditioneller europäischer Großstadtplatz, weil er klare Kante zeigt. Sprich: Er hat Wände in Gestalt von Fassaden. Trotzdem ist er ein Albtraum, eine Dystopie. Weil er einen aggressiv belästigt, weil er Konsum aufzwingt, weil Stadtbewohner sein hier bedeutet: ins Kino gehen und essen, essen, noch mehr essen. Und weil er maß- und schamlos den ältesten Lockstoff der Menschheit einsetzt, um von der kreativen Dürftigkeit der Architektur abzulenken: Licht. Blade Runner ist hier keine Fiktion mehr. Riesige Leinwände fluten den Platz Tag und Nacht mit Namensbranding, dazu kommen acht symmetrische LED-Säulen, die von ihrer Herkunft aus dem Reichsparteitag nichts wissen und doch das Herz von Leni Riefenstahl erfreut hätten. Sie sprechen ja auch die Wahrheit, erfüllte der Mercedes-Platz bei Popkonzerten und Spielen von Alba oder der Eisbären doch die Funktion eines Aufmarschgeländes für die Massen.

Nirgendwo ist Stadt so fernes Wunschdenken wie hier.

Aber wie soll so ein Ort Identität gewinnen? Zumal sich sein Name wahrscheinlich mit jedem Sponsorenwechsel ändert? Ist dies überhaupt öffentlicher Raum, dürften hier zum Beispiel, nach Anmeldung, antifaschistische Demos stattfinden wie am Oranienplatz? Apropos, eine kleine Kreuzberger Widerständigkeit gab es doch. Nach Recherchen der „Zeit“ hat es einen einfachen Grund, warum der Platz nicht „Mercedes-Benz-Platz“ heißt. Im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg gilt die Regel, dass alle Straßen und Plätze nach Frauen benannt werden müssen, bis Gleichstand mit den männlichen Namen erreicht ist. Und was ist Mercedes? Genau, ein Frauenname, in Spanien. Bitte, warum nicht gleich Bertha-Benz-Platz? Die resolute Dame hat schließlich im August 1888 durch ihre eigenmächtige Fahrt von Mannheim nach Pforzheim ohne Wissen des Gatten die Eignung des neuen Gefährts auf der Langstrecke bewiesen und damit das automobile Zeitalter eingeläutet. Man hätte auch einfach die Ehefrau Gottlieb Daimlers nehmen können. Hat ja schon mal funktioniert: Weil der Platz vor dem Jüdischen Museum nicht nach Moses Mendelssohn benannt werden durfte, heißt er jetzt pragmatisch Fromet-und-Moses-Mendelssohn-Platz. Es führt wohl kein Weg am Emma-und-Gottlieb-Daimler-Platz vorbei.

Richtig ernst wird es übrigens an der Helen-Ernst-Straße. Der 1948 an den Folgen der Lagerhaft gestorbenen Zeichnerin und Widerständlerin hat man ordentlich eingeschenkt; die nach ihr benannte Straße ist die hässlichste des Quartiers. Weil sie nur die Rückseiten bedient, also: Parkhauseinfahrten, Notausgänge, Personaleingänge, verschlossene Türen, tote Erdgeschosse. Der Hintern des Viertels. Nirgendwo ist Stadt so fernes Wunschdenken wie hier. Was zugleich ein generelles Problem zeitgenössischer Architektur beleuchtet. Weil sie sich zuvorderst auf das Innere konzentriert, ist ihr das Äußere völlig zweitrangig. Die Hülle ist nur der Abdruck der inneren Funktion. Irgendwie muss das Gebäude ja aussehen. Wer hingegen am nahen Boxhagener Platz spaziert, merkt schnell: Gründerzeitviertel, heute die beliebtesten Wohngegenden, kennen keine Rückseite. Alles ist nach außen gerichtet, will wirken, repräsentieren, etwas erzählen.

Begriffe wie Verzicht oder Demut sind dem Quartier fremd.

Wo sind die Baumeister, die heute wieder Orte wie den Heinrichplatz oder den Viktoria-Luise-Platz schaffen können, die ja auch in wenigen Jahren am Reißbrett entstanden sind und Urbanität ausstrahlten? Plätze, die von Gastronomie geprägt sind, wo man aber verweilen kann, ohne ständig zugebrüllt zu bekommen: „Iss was!“ Deren Randbebauung kleinteilig und damit menschlich ist? Rund um den Mercedes-Platz sind, wie übrigens auch am Potsdamer Platz, eine Handvoll riesiger Neubauten entstanden, wo Dutzende Platz gehabt hätten. Die 50 bis 100 Meter langen Fassaden sind monoton, regen keine Gedanken an. Das Resultat: Stumpfsinn. Das neue Viertel ist auch eine gigantische Verdummungsmaschine. Es schreit und hat doch so wenig zu sagen.

Eine unterschwellige Botschaft transportiert es gleichwohl. An der wiederum alles falsch wirkt: Pfeife auf Ressourcen- und Klimaschutz, flüstern die Gebäude, die Welt gehört dir, benutze und verbrauche sie! Die Energie kommt aus der Steckdose. Dass wir alle weniger konsumieren müssten statt mehr, dass wir nur alle fünf Jahre fliegen und die Kohle dort lassen sollten, wo sie hingehört, nämlich in der Erde, dass wir offensiv Bäume pflanzen müssten, um der Atmosphäre CO2 zu entziehen, anstatt sie roden zu wollen wie im Hambacher Wald – von all dem erfährt man hier nichts. Begriffe wie Verzicht oder Demut sind dem Quartier fremd. So verlässt man es erleichtert. Und denkt: In 100 Jahren vielleicht, nachdem sie zwei oder drei Renovierungszyklen hinter sich hat, könnte diese Architektur anfangen, interessant zu werden und so etwas wie Charakter zu entwickeln. Als Signum einer Epoche. Aber natürlich ist sie bis dahin längst abgerissen. Ressourcen sind ja genug da.

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