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Kultur: Der Rebell von der Loire

Er war Marxist – und Fatalist. Zu seinem 100. Geburtstag wird der französische Schriftsteller Paul Nizan wiederentdeckt

Als der ins Bürgertum aufgestiegene Arbeitersohn Antoine Bloyé mit 65 Jahren in seinem Häuschen in Nantes stirbt, ist der letzte plastische Eindruck vom Erdenleben, den der Erzähler Paul Nizan seinem unglücklichen Helden gönnt, ein Türgriff aus Porzellan – „von blendendem Weiß wie ein gelackter Knochen, wie ein erleuchtetes Ei“, während alles andere Licht um ihn herum erlischt.

Antoine Bloyé ist ein Entwurzelter, ein nach oben Deklassierter, da sich der Bretone, der zum Depotchef einer privaten Eisenbahngesellschaft aufstieg, vom Lebensnerv der Arbeiterklasse abschnitt. Damit illustrierte Nizan einmal mustergültig Karl Marx’ These vom verhängnisvollen Widerspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Auch die Liebe des Pariser Straßenmädchens Marcelle hat der Absolvent einer Elite-Berufsschule verraten: Anstatt sich zu seiner glutvollen Leidenschaft zu dieser Frau aus dem Volk zu bekennen, die ihn versteht, heiratet Antoine ehrgeizig die gefühlskalte Tochter seines Vorgesetzten. Damit hat sich der – nachher aus Feigheit treue – Ehemann für den Rest seines Lebens aus dem Reich der Liebe und der Sinnlichkeit verbannt.

Nur manchmal, wenn er in Schaufenster blickt oder unter raschelnden Seidenstoffen die Konturen fremder Frauen erahnt, erlebt Antoine jenes sinnliche Aufblitzen, das der Dichter Charles Baudelaire einst gebannt hat: die jäh aufflammende Liebe zu einer Passantin, deren Gesicht in der anonymen Menge auftaucht und ebenso schnell wieder verschwindet.

Paul Nizan wurde am 7. Februar 1905 in Tours an der Loire geboren, und die Geschichte des Titelhelden seines ersten Romans „Antoine Bloyé“ aus dem Jahr 1933 entsprach genau der Biografie seines eigenen Vaters. An der Eliteschule Ecole Normale Supérieur lernte Nizan den gleichaltrigen Jean-Paul Sartre kennen, der auch sein Trauzeuge wurde. Angewidert vom rigiden Drill, brach der 22-jährige Absolvent Nizan auf den Spuren des Dichterrebells Arthur Rimbaud nach Aden im heutigen Südjemen auf. Sein kolonialismuskritischer Essay „Aden Arabie“ trug dem Lehrer und späteren Journalisten der Parteizeitung „Humanité“ ersten Ruhm ein. 1934 reiste Nizan in die Sowjetunion, um den internationalen Schriftstellerkongress vorzubereiten. Mit André Malraux und anderen entwickelte er eine Theorie der revolutionären Literatur. Dennoch zögerte er nicht, sofort nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 aus der Kommunistischen Partei auszutreten, was ihm über den Tod hinaus Verleumdungen als angeblicher Polizeispitzel einbrachte.

Am 23. Mai 1940, kurz nach seiner Einberufung, fiel der 35-Jährige bei Dünkirchen, als sich sein Regiment bereits auf dem Rückzug vor den deutschen Truppen befand. Wie Walter Benjamin, der sich im gleichen Jahr in Südfrankreich auf der Flucht das Leben nahm, ist mit Paul Nizan eine überragende intellektuelle Hoffnung dem unermesslichen Blutzoll von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg zum Opfer gefallen. Doch Freunde und Geistesverwandte wie Sartre oder Jean Améry, der Nizan „cartesianische Transparenz“ bescheinigte, haben sein rebellisches Vermächtnis bewahrt, vor allem im Pariser Mai 1968.

Für den im vergangenen Sommer aus dem Leben geschiedenen Frankreichliebhaber Lothar Baier war Paul Nizan stets ein imaginärer Gesprächspartner, am deutlichsten in seiner Erzählung „Jahresfrist“ von 1985.

„Das Leben des Antoine B.“ ist in Gerda Scheffels Übersetzung bereits 1974 erschienen und liegt nun erfreulicherweise zu Paul Nizans 100. Geburtstag in einer überarbeiteten Neuausgabe vor. Denn es handelt sich bei diesem realistischen Lebensbildnis in der Tradition Emile Zolas um weit mehr als um Literatur zur Illustration marxistischer Thesen. „Antoine Bloyé“ ist eine Art Heimatroman, ein sinnliches Panoramagemälde französischer Landschaften von der Loire-Mündung bei Nantes über das malerische Limousin bis nach Paris im Jahr der Weltausstellung 1889. Nizan bildet die Kapitale und ihre Bahnhöfe mit der Begeisterung der impressionistischen Maler jener Zeit ab. Vor allem strömt die Loire als Zeitfluss durch diesen großen, klassisch dreigeteilten Roman.

Antoine Bloyé erscheint als Medium, das sich mit dem Strom der Anpassung von seinem Ich entfremdet. 1914 wird er als Depotleiter degradiert, als sich in seinem Betrieb, der auf die Rüstungsindustrie umgestellt wurde, eine schwer wiegende Panne ereignet. Die „unwiderstehliche Beschleunigung“ seines Lebens läuft nun ins Leere, er gerät in eine psychische Krise. Das alles wird von außen geschildert, wie eine Versuchsandordnung. Doch die überwältigende Furcht des alt gewordenen Mannes vor dem Verlust seiner Identität und vor dem Nichts reflektiert überdeutlich die Zweifel und Ängste eines Autors in schwierigen Zeiten. Paul Nizan sah seinen Helden als hilflose kleine Spielfigur: als „einen der Einsätze in dem großen Spiel, das die wichtigsten Herren der französischen Bourgeoisie begonnen hatten“. So lautet der hellsichtige Befund eines zeitlosen Fatalisten.

Paul Nizan: Das Leben des Antoine B. Roman. Aus dem Französischen von Gerda Scheffel. DuMont Literaturverlag, Köln 2005. 260 Seiten, 19,90 €.

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