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Kissenschlachtfeld. Laura Tratnik als Lulu, ein Verehrer und Frauen aus dem Chor.

© Lieberenz

Schaubühne: Der Strich und seine Fassung

Sexarbeiterinnen an der Schaubühne: Volker Lösch ruft "Lulu - die Nuttenrepublik" aus - er hat eine seltsame Vorstellung von Erotik.

Ein kleiner Kurs in Theatergeschichte und Bühnenpraxis hätte geholfen. Da lernt man: Leg’ dich nicht mit „Lulu“ an. Lass’ die Finger von Frank Wedekind, wenn du kein Teufelskerl bist. Peter Zadek hat vor Jubeljahren am Hamburger Schauspielhaus mit Susanne Lothar das Monsterstück so hart und opulent und wirkungsmächtig inszeniert, als wäre es nicht von dieser Welt, oder eben doch: als wären Himmel und Hölle, Liebe und Hass, Sex und Tod, Mensch und Tier ein- und dasselbe Ding. Michael Thalheimer zeigte am Thalia Theater – das ist auch schon wieder sieben Jahre her – mit Fritzi Haberlandt das harte und trockene Gegenprogramm: Libido als reine Kopfgeburt, während Thomas Ostermeier an der Schaubühne zur gleichen Zeit mit Anne Tismer in der Titelrolle herumhistorisierte und sinnlose Damenopfer zelebrierte.

Auch hundert Jahre nach seiner Entstehung, nach all den Wedekind-Skandalen bleibt das „Lulu“-Drama ein Schlachtfeld für Regisseure. Wenn man einen Regisseur hat. Volker Lösch ist keiner. Die neue „Lulu“ der Schaubühne demonstriert das gnadenlos. Lösch kann Krawall machen, wie bei seinem Marat/Sade, er kann Protestmärsche gegen den neuen Stuttgarter Bahnhof orchestrieren, aber ein Stück sinnlich und intellektuell durchdringen, das kann er offensichtlich nicht. Die wenigen Spielszenen, die er noch übrig lässt in seiner Strichfassung, sind an Primitivität kaum zu unterbieten. Notgeile Männer rasen an der Rampe, trampelnde Brüllaffen. Vollautomatisch schwanzgesteuert, in Testosteron gebadet, werfen sich die bedauernswerten Akteure (Felix Römer, David Ruland, Sebastian Nakajew, Nico Selbach) in die weiche weiße Wand. Das Bühnenbild von Carola Reuther: ein vertikales Kissenschlachtfeld. Und sonst alles in der Horizontalen.

Lösch hat eine seltsame Vorstellung von Erotik. Immerzu muss Laura Tratnik ihr langes Haar peitschen und verwirbeln, aus Leibeskräften schreien, ihren Körper verbiegen und sich bespringen lassen. Wedekinds Lulu-Figur mag alles Mögliche sein, Femme fatale, wahnsinnige Männerfantasie, Superhure, kindliche Domina, eiskalt, naiv, berechnend, mythisches Wesen, Comic-Blase – sie bleibt ein menschliches Wesen, das fühlt und liebt, ein Individuum, mag sie auch noch so animalisch ticken. Lösch reduziert Lulu und ihre Männer zu Geschlechterkampfmaschinen, die auf Selbstzerstörung programmiert sind. Immer feste druff im Puff.

Man müsste über diese Darbietung (sind wir hier wirklich in der Schaubühne?) kein Wort verlieren, hätte Lösch nicht wieder Gäste ins Theater eingeladen. Das ist seine Spezialität, sein einziger und inzwischen sehr durchsichtiger Trick: Er stellt Laien auf die Bühne. In Dresden, bei Hauptmanns „Webern“, war das ein zorniger Bürgerchor, in Hamburg wetterten Hartz-IV-Empfänger gegen die Reichen, an der Schaubühne sollten es nun ursprünglich Banker sein, er wollte ein Stück über Geld und Krise machen. Aber das Casting klappte nicht, Lösch disponierte um – und rekrutierte für seine „Lulu-Nuttenrepublik“ Prostituierte, die aktiv ihrem Beruf nachgehen oder ausgestiegen sind aus dem Milieu. Sechzehn Frauen, sechzehn Mal Lulu aus dem vollen Leben. Damit, so Dramaturg Stefan Schnabel, werde Wedekinds Jahrhundertwerk ergänzt und aufgeladen von Berliner Sexarbeiterinnen.

Nach dem gleichen Prinzip verhaftete Lösch vor einem Jahr an der Schaubühne Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Ehemalige Strafgefangene erzählten aus ihrer Biografie. Die Idee ist billig, so lässt sich fast jedes Stück beliebig „ergänzen und aufladen“. Man könnte für „Endstation Sehnsucht“ Bus- und Trambahnfahrer engagieren oder einen Kellner-Chor für „Fräulein Julie“, Landärzte für alle Tschechow-Stücke oder Juristen, die braucht man immer. Und so verbraucht der Dreh mit den Betroffenen und Berufenen auch jetzt schon ist: Die Chöre verschaffen sich Gehör. Sie sind das einzig theatralische Element in Löschs Arrangements. Mit Bernd Freytag, der einst bei Einar Schleef gelernt hat, was Wortgewalt bedeutet, hat Volker Lösch einen hervorragenden Chorleiter. Wer im Chor steht, wer sich das zutraut und den Schritt auf die Bühne wagt, als blutiger Anfänger, behält seine Würde, wird nicht verheizt – im Gegensatz zu den Schauspielprofis.

Hinweis für Voyeure und Moralwächter: Nichts Neues aus ihrem Gewerbe erzählen die Chorfrauen. Keine Fikileaks, keine spitzen Details. Für Berliner Verhältnisse brav. Und ärgerlich für den Feministen Lösch: Die Prostituierten dementieren seine peinliche „Lulu“-Strichfassung. Ihr Frauen-Männer-Bild ist differenzierter. „Eine Hure ist ein Mensch“, skandieren sie lächelnd. Ein Freier auch.

Wieder am heutigen Montag und am 14. und 15. Dezember.

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