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Camille Saint-Saens an der Orgel.

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100. Todestag von Camille Saint-Saens: Der Unangepasste unter den Komponisten

Mehr als der „Karneval der Tiere“: Im Werk des französischen Komponisten Camille Saint-Saëns ist noch so manches zu entdecken.

Man sollte sich nicht täuschen lassen. Seine in ihrer Breite, Tiefe und Originalität hierzulande noch immer unterrepräsentierte Musik war keineswegs auf französische Klangvorstellungen beschränkt. Letztlich geht sie in keiner der Nationalschulen auf, die bis ins 20. Jahrhundert hinein beschworen wurden. Natürlich absorbierte Camille Saint-Saëns Tradition und lebendige Gegenwart seiner Geburtsstadt Paris mit allen Sinnen eines schier unbegrenzt aufnahmefähigen Talents – schon während der ersten Konzerterfahrungen als pianistisches Wunderkind; dann als frühreifer Student am Pariser Konservatorium, wo er sich wie der drei Jahre jüngere George Bizet („Carmen“) und der gut sechs Jahre jüngere Jules Massenet („Werther“) in die Kniffe des Tonsatzes einweisen ließ; schließlich als souverän erfahrungstrunkener Konstrukteur höchst eigenwilliger musikalischer Architekturen.

Unter dem Eindruck der 1870/71 militärisch explodierten Rivalität zwischen Preußen und Frankreich gründete er sogar eine Société Nationale de Musique, um den Einfluss Wagners durch die Ausbildung einer „ars gallica“ zurückzudrängen. Doch aus etlichen der rund 700 hinterlassenen Werke spricht ein europäisch ausgerichteter Geist, der gleichsam unter der Hand die ideologische Einhegung des Eigenen aufhebt.

Ein schönes Beispiel für den immensen Horizont Saint-Saëns' ist der berühmte „Carnaval des animaux“ (1886), den der skrupulöse Komponist am liebsten in der Schublade hätte verschwinden lassen. Denn in dieser zu seinem größten Hit avancierten „zoologischen Fantasie“ offenbart sich ein parodistisch kaustischer Humor, vor dem niemand sicher war: Von Berlioz, Offenbach, Rossini, dem Etüden-Meister Czerny auch von sich selber stammen die Stil-Blüten, die hier durch den Kakao gezogen werden. Und eine weitere Eigenschaft des 1834 geborenen Überfliegers tritt exemplarisch zutage: eine kühne Instrumentierungskunst, die völlig neue Farben erschloss – erst durch Saint-Saëns rücken Xylophon, Celesta, Saxophon auf dem Podium ins Rampenlicht, wird der romantische Orchesterapparat um entlegene Register erweitert, etwa eine Orgel und zwei Flügel in der populären dritten Sinfonie (1886).

Elf Opern hat Saint-Saens komponiert

Doch alles bleibt gebunden an die Idee einer objektivierenden, scharf konturierten Schönheit, der jedwede Schwärmerei suspekt ist. „Er suchte vor allem die Leidenschaften und das Leben“, schrieb Saint-Saëns über Bizet, „ich dagegen verfolgte die Chimäre der Reinheit des Stils und der Perfektion der Form“.

Auf Abstand hielt er die Ästhetik rauschhaft subjektiver Entäußerung auch in seinen elf Opern, von denen nur das früh konzipierte, vielfach bearbeitete, von Liszt 1877 in Weimar uraufgeführte Bibeldrama „Samson et Dalila“ Eingang ins Repertoire fand. Dabei haben inzwischen vier Buch-CD-Editionen der Stiftung Palazzetto Bru Zane, darunter die funkelnde „Princesse jaune“ (1872) und „Le Timbre d'Argent“ (1877), den unterschätzten Rang dieser in ihrer ausgefeilten clarté nicht nur den Überwältigungsstrategien des Wagnérisme, sondern auch dem ins Sentimentale spielenden Gefühlsfarbenfieber, das seinerzeit an der Seine grassierte, widersprechenden Werke klargestellt.

Bis ins hohe Alter blieb er kreativ

Die verkannte Größe Saint-Saëns' zeigte sich nicht zuletzt, als er ein wagnerinfiziertes Drame lyrique seines Freundes Ernest Guiraud, Urheber der Rezitative in „Carmen“ und „Les Contes d' Hoffmann“, nach dessen Tod fertig komponierte. Die Dortmunder Oper hat „Frédégonde“ – nur die ersten drei Akte konnte Guiraud noch entwerfen, die Instrumentierung steuerte Paul Dukas, die letzten zwei Aufzüge Saint-Saëns bei – unlängst in einer bemerkenswerten Stummfilm-Bühnen-Version der Regisseurin Marie-Eve Signeyrole wiederbelebt. Und mit dieser exzellent besetzten Produktion, der ersten seit der Pariser Premiere 1895, ein eindrucksvolles Plädoyer für Qualität und Tauglichkeit eines klassizistisch gehärteten Musiktheaterkorpus gehalten, der zu Unrecht auf ein einziges Opus reduziert wurde.

Bis ins hohe Alter blieb Saint-Saëns’ produktive Energie intakt, entstanden Solokonzerte, Chorwerke, Kammermusik, Stücke für Klavier und Orgel. Maurice Ravel und die Groupe des Six wären ohne ihn undenkbar, über seinen Schüler Gabriel Fauré inspirierte er Modernisten wie Nadia Boulanger und Charles Koechlin. Vor 100 Jahren, am 16. Dezember 1921 ist Camille Saint-Saëns in Algier gestorben. Höchste Zeit, den Blick auf das Genie dieses unkonventionellen Europäers zu weiten.

Albrecht Thiemann

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