zum Hauptinhalt
Rockgigant. Bruce Springsteen.

© Sony

Das neue Album von Bruce Springsteen: Des Meisters neue Muse

Inspiriertes Sammelsurium: Bruce Springsteen greift mit dem Album „High Hopes“ auf älteres Material zurück und covert Stücke anderer Musiker. Unterstützt wird er dabei von Ex-Rage-Against-The-Machine-Gitarrist Tom Morello.

Es beginnt wie ein Rock-’n’-Roll-Märchen. Bruce Springsteens Manager ruft an und sagt etwas wie: „Hast Du Lust, im März nach Australien zu fahren? Bruce tourt da unten, aber Steve hat keine Zeit. Er muss zu Dreharbeiten für eine Serie, in der er einen Gangster spielt. Du könntest seinen Job in der E Street Band übernehmen. Interessiert?“ Wow, ja klar! Tom Morello sagt begeistert zu. Der Gitarrist aus Los Angeles ist ein großer Fan von Springsteen und hatte vor ein paar Jahren schon einmal einen kurzen Gastauftritt bei ihm.

Nach der Freude über das Angebot kommt erst mal der Schock: Es gibt mehrere hundert Springsteen-Songs und der Boss ist bekannt dafür, seine Setlists jeden Abend zu verändern. Er gibt Morello eine Liste von 50 Stücken, die dieser sich innerhalb von drei Monaten draufschafft. Doch das ist nur der Anfang: „Vor der zweiten Show schrieb er mir eine SMS mit sieben weiteren Songs“, erzählt Morello in einem Interview mit dem amerikanischen „Rolling Stone“-Magazin. „Ich hatte etwa eine Stunde und 45 Minuten, um die zu lernen.“ Er hat es hinbekommen, genau wie all die anderen zusätzlichen Lieder.

Und es wird sogar noch besser, denn sowohl vor der Tour als auch zwischendurch bittet der Meister Morello immer mal wieder in ein Studio. „Bruce nimmt ständig auf“, heißt es zur Erklärung. Also kommt der stets Baseball-Kappe tragende Gitarrist zu den Sessions und spielt diverse Solo-Parts ein. Irgendwann dämmert ihm, dass dies vielleicht nicht nur Spaßveranstaltungen sind.

Tatsächlich wurde der einstige Gitarrist von Rage Against The Machine und Audioslave quasi nebenbei zu einer entscheidenden Stimme auf Bruce Springsteens 18. Studioalbum „High Hopes“, das am heutigen Freitag erscheint. Auf sieben der zwölf Stücke ist er zu hören, was jeweils in Großbuchstaben hinter den Songtiteln auf dem Cover steht.

Bruce Springsteen ist fasziniert von seinem 49-jährigen Kollegen. Im Booklet nennt er ihn und seine Gitarre eine Muse, die das Projekt auf ein anderes Niveau gehoben hätten. „Die E Street Band ist ein großes Haus, doch wenn Tom auf der Bühne ist, baut er einen weiteren Raum“, pries er ihn unlängst und verglich ihn mit Größen wie Pete Townshend, The Edge und Johnny Marr. Seine Begeisterung geht sogar so weit, dass er mit Morello das erste reguläre Gesangsduett auf einem seiner Studioalben singt: Gemeinsam haben sie „The Ghost of Tom Joad“, das von John Steinbeck inspirierte Titelstück des gleichnamigen Springsteen-Werkes von 1995, noch einmal eingespielt und es aus seiner zarten Folk-Form in ein siebeneinhalbminütiges Rock-Biest überführt.

Morello hatte das Stück einst mit Rage Against The Machine gecovert – oder eher zerschreddert. Hier leistet er nun unter anderem mit einem eindrucksvollen Sirenengeheul-Flacker-Tacker-Solo ein bisschen Wiedergutmachungsarbeit. Das in der Tradition von sozial engagierten Protestsängern wie Woody Guthrie stehende Stück zeigt auch die Gesinnungsverbindung, die zwischen Springsteen und Morello besteht. Wobei Occupy-Unterstützer Morello, der sich schon mal Parolen wie „Bewaffnet die Obdachlosen“ auf die Gitarre schreibt, noch etwas weiter links stehen dürfte als der bodenständige Demokrat Springsteen.

Auf „High Hopes“ greift der 64-jährige Bruce Springsteen auf älteres Material zurück: Songs, von denen es bisher nur Live-Aufnahmen gab, treffen auf Outtakes der letzten Studioalben, wobei auch eine Handvoll Takes der verstobenen Bandmitglieder Clarence Clemons (Saxofon) und Danny Federici (Keys) zu hören sind. Hinzu kommen Neueinspielungen alter Stücke und Coverversionen. So stammt etwa der Titelsong – zugleich die erste Single – von den Havalinas aus Los Angeles. Deren nervösen Snare-Drum-Rhythmus haben Springsteen und die E Street Band beibehalten, durch Bläsersektion und Chor bekommt ihre Version jedoch mehr Wucht und Kontur. Springsteens arg gepresster Gesang irritiert allerdings.

Den fragmentarischen Entstehungsprozess und die disparate Herkunft der Stücke merkt man „High Hopes“ deutlich an. Doch bei aller Sammelsuriumshaftigkeit sowie einigen verzichtbaren Momenten wie dem Dudelsackgenerve von „This Is Your Sword“ oder dem übereuphorischen Jubilieren von „Just Like Fire Would“ prägen starke, berührende Aufnahmen die Platte. Auf „The Wall“ beispielsweise singt Springsteen zu einer reduzierten Gitarre-Orgel-Begleitung über einen Rockmusiker, den er einst bewunderte und der in Vietnam fiel. Man merkt dieser Ballade in jedem Takt das Herzblut an, das Springsteen hineingesteckt hat.

Ähnlich verhält es sich bei der ersten Studioaufnahme von „American Skin (41 Shots)“, die ebenfalls an einen Toten erinnert: den 1999 von vier New Yorker Polizeibeamten erschossenen, unbewaffneten Amadou Diallo. Das zunächst aus der Sicht eines Polizisten erzählte Stück entfaltet sich nach einem verhaltenen Beginn zu majestätischer Größe, wozu eine Call-and-Response-Sequenz mit dem Chor sowie ein wehmütiges, gedoppeltes Solo von Tom Morello beitragen.

Der Gastgitarrist bringt sich mal sachdienlich, mal überraschend in die Produktion ein. Wer ihn nur von seiner AggroRiff-Zeit bei Rage Against The Machine kennt, wird ihn hier kaum wiedererkennen, wenn er etwa in der an Bob Dylan erinnernden Dreivierteltakt-Ballade „Hunter Of Invisible Game“ brav das Leitmotiv von den Streichern auffängt. Das Märchen macht’s möglich.

„High Hopes“ erscheint bei Sony.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false