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Kultur: Dichter mit einer Ratte - das etwas andere Porträt

Es muss im Winter 1986 gewesen sein. Jedenfalls lag Schnee, als wir mit Günter Grass und seiner "Rättin" in der Schweiz auf Lesetour unterwegs waren.

Es muss im Winter 1986 gewesen sein. Jedenfalls lag Schnee, als wir mit Günter Grass und seiner "Rättin" in der Schweiz auf Lesetour unterwegs waren. Wir hatten uns dem kleinen Literaturzirkus angeschlossen, um über die auffallende Tier-Symbolik in seinem Werk zu schreiben - ein weites, unbeackertes Feld. Dabei hatte der junge Poet schon früh die "Vorzüge der Windhühner" samt Schwalben, Krähen und Tauben bedichtet, sich intensiv Hund, Katz und Maus verschrieben, danach Schnecken (85 000 an der Zahl) und dem Butt gewidmet, um nur die hohen Tiere aus dem Dichter-Zoo anzuführen. Spezialist für Ohrenquallen (Aurelia aurita) war er ohnehin.

Anschließend erkor er sich die "Rättin" zur Leitfigur, unvergesslich der Anfang, den er mit flüsternd dahinhuschender (und jedenfalls unvergesslicher Stimme) in die überfüllten Säle hineinsprach. Den Zuhörern sträubten sich die Nackenhaare, wenn der Poet die nicht ganz geheuere Ratz auf die Menschheit losließ: "Auf Weihnachten wünschte ich eine Ratte mir . . ." Mochte die Kritik ihn wegen des Öko-Romans attackiert haben wie selten einen, das Publikum lauschte atemlos, sobald er mit der Ratte als Leithammel den Weltuntergang beschwor.

Wie gesagt, ich schrieb darüber einen Artikel für ein Münchner Magazin. Der Optik und des Effekts wegen entstand die nicht besonders originelle Idee, den Dichter mit einer Ratte auf der rechten Schulter zu fotografieren. Der Auftrag ging an die so sanfte wie tolle Porträtfotografin Nomi Baumgartl, eine Frau, unerschrocken genug, solche Bestien auch anzufassen. Bis zum Termin mit Grass ließ man einen von der Kollegin R. eigens besorgten Nager auf dem Fensterbrett des Hotelzimmers spazieren. Heute kann man es ja sagen, es war im "Sacher".

Es ist nicht mehr ganz klar, wer vom Team von dem besagten Monster in den Finger gebissen wurde. Günter Grass jedenfalls nicht. Ihn dünkte das Viech "räudig" und kein Vergleich mit dem Fabelwesen, an dem er seine Geschichte entlang erzählte. Mit unserer Ratte wolle er nicht aufs Bild. Vielleicht war der Meister gedanklich schon bei den Unken, die er später zu Buchhelden machte.

Nomi Baumgartl kam trotzdem zu einem Superporträt. Es zeigt Grass mit einer von ihm geschaffenen Plastik der "Rättin". Das Bronzetier gehört heute einem Hamburger Chefredakteur. Die lebendige Ratte wurde bis zur Abholung beim Hotelpförtner hinterlegt. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann lebt sie noch heute.

Jürgen Schreiber

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