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Kultur: Die böse Hälfte der Welt

In der arabisch-islamischen Welt schien nach dem 11. September eine Zeitlang alles offen: Würde die veränderte Weltlage nach den Terroranschlägen eher den Israelis oder den Palästinensern nutzen?

In der arabisch-islamischen Welt schien nach dem 11. September eine Zeitlang alles offen: Würde die veränderte Weltlage nach den Terroranschlägen eher den Israelis oder den Palästinensern nutzen? Würden die Anschläge den US-hörigen arabischen Regimen einen Schrecken einjagen? Und sie zu mehr Repression oder zu größerer politischer Liberalisierung veranlassen? Würden zumindest die Intellektuellen der muslimischen Welt darüber nachdenken, wie Mitglieder ihres Kulturkreises dazu kommen, Anschläge auf das World Trade Center im Namen der Religion zu verüben - oder zu preisen?

Mittlerweile ist klar, dass sich nicht viel geändert hat. Vielleicht kommt etwas Bewegung in den Nahostkonflikt, weil die USA verstanden haben, dass die Fortsetzung der israelischen Besatzung mit Hilfe der USA die antiamerikanischen Gefühle in der arabischen Welt schürt. Die arabischen Regime aber haben sich dafür entschieden, im Umgang mit Oppositionellen auch weiterhin auf die Unterdrückung kritischer Meinungen zu setzen. Und die islamischen Intellektuellen haben sich bis auf wenige Ausnahmen mit dem Phänomen Osama bin Laden bis heute nicht kritisch auseinandergesetzt.

Ohmacht vergessen

Der Schulterschluss vieler Muslime mit bin Laden ist kein Zufall. Spricht er in seiner politischen Analyse doch an, was viele Muslime denken, aber in ihren Ländern nicht öffentlich benennen dürfen: die Korruption der arabischen Regime, ihre teilweise Amerika-Hörigkeit, die unterschiedlichen moralischen und völkerrechtlichen Standards, die der Westen anlegt, wenn es um Israel und Irak geht. Gewiss war es psychologisch wichtig, dass Bin Laden mit seinem Auftritt der Weltmacht Amerika die Stirn bot und damit das in der arabischen Welt verbreitete Gefühl der Ohnmacht und Demütigung zumindest vorügergehend vergessen ließ. Dennoch teilen die wenigsten Muslime das Islam-Verständnis der Taliban. Um sich nicht kritisch mit bin Laden auseinandersetzen zu müssen, haben sich allerdings auch Intellektuelle immer wieder darauf zurückgezogen, dass seine Schuld nicht erwiesen sei. Doch allein die Tatsache, dass er die Terrorakte im Namen des Islam gutheißt, wäre Anlass genug für eine kritische Debatte.

Stattdessen bedient sich die arabische Welt der alten Erklärungsmuster. Wilde Konspirationstheorien machen in den Medien die Runde: Der israelische Geheimdienst stecke hinter den Terroranschlägen, die Anthrax-Briefe soll die US-Regierung selbst verschickt haben. Mit Beginn der amerikanischen Bombardements auf Afghanistan war dann auch das Weltbild, demzufolge Israel und die USA die Bösen sind, wieder in Ordnung.

Wo aber sind die arabischen Intellektuellen? Sie hätten überkommene Denkmuster in Frage stellen müssen, so wie der syrische Denker Sadiq al Azm dies 1967 nach dem Sechstagekrieg tat. In "Selbstkritik nach der Niederlage" analysierte er, warum die Araber den Israelis unterlegen waren: das unkritische Festhalten an Traditionen und religiösen Überlieferungen; die Nichtachtung des Individuums; die Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen; der Hang zum Fatalismus, mit dem sich die arabischen Gesellschaften immer als Opfer anderer Mächte sehen. Diese Analyse, die Sadiq al Azm seinen Lehrstuhl an der American University von Beirut kostete, ist heute so aktuell wie vor über 30 Jahren.

Die Frage, ob die arabisch-muslimische Welt mit Schuld daran trägt, wenn junge Muslime im Namen ihrer Religion tausende unschuldiger Zivilisten töten, wird nicht diskutiert. Immerhin ging der libanesische Dichter Abbas Baydoun in der Tageszeitung "As-Safir" mit den arabischen Intellektuellen hart ins Gericht. Sie seien unfähig zur Selbstkritik und leisteten den antiwestlichen Gefühlen der Bevölkerung Vorschub. Die übrigen kritischen Anmerkungen kommen meist von arabischen Intellektuellen, die im westlichen Ausland leben: von dem marrokanischen Schriftsteller Tahar Ben Jelloun in Paris oder dem Literaturwissenschaftler Edward Said, der palästinensischen Ursprungs ist und in den USA lebt.

Die Intellektuellen in den arabischen Ländern haben es schwer. Viele kommen ins Gefängnis oder gehen ins Exil, denn ihr Freiraum zwischen den autoritären Regimen mit strikten Zensurregelungen und den islamistischen Oppositionen ist denkbar gering. Andere werden von den Regimen durch ehrenvolle Angebote in Dienst genommen und so zum Schweigen verurteilt. Ohnehin gibt es kaum Publikationen, in denen sie sich offen zu Wort melden können.

Die vielen Denkverbote - offene Kritik an der eigenen Regierung, Kontakte mit Israel, Infragestellung islamischer Überzeugungen, die angeblich aus dem Koran abgeleitet und damit göttlich und unveränderlich sind - haben ihre Spuren hinterlassen. So gibt es beispielsweise keine zeitgenössische arabische Philosophie, weil man dazu auch die Religion in Frage stellen müsste. Der Fall des ägyptischen Islamwissenschaftlers Nasr Hamid Abu Zaid zeigt, dass dies noch unmöglich ist. Er hatte für eine Öffnung und Neuinterpretation des Koran plädiert. Ein ägyptisches Gericht befand ihn für schuldig, vom Glauben abgefallen zu sein und ordnete die Zwangsscheidung von seiner Frau an, da eine Muslimin nicht mit einem Apostaten verheiratet sein dürfe. Dieser Prozess und die Mordaufrufe gegen Salman Rushdie haben arabische Autoren praktisch zur Selbstzensur gezwungen.

Kontakte zu Israel gelten im ägyptischen Schriftstellerverband beispielsweise als Verbrechen, obwohl der ägyptische Staat einen Friedensvertrag mit Israel hat. Der Theaterschriftsteller Ali Salem wurde im Mai 2001 vom Verband ausgeschlossen, weil er in der Vergangenheit nach Israel gereist war und darüber ein sehr persönliches Buch geschrieben hatte. "Wie können Intellektuelle sich ihre Redefreiheit beschneiden lassen!", erregt sich Ali Salem im Gespräch mit dem "Tagesspiegel". Seine Erklärung: "Unsere ägyptischen Intellektuellen sind Kämpfer, keine Schriftsteller."

Selbstverteidigungsreflexe

Das analytische Denken bleibt auf der Strecke. Die Opfer in New York werden aufgerechnet mit den erschossenen Palästinensern. Jede Kritik an der arabischen Welt wird mit dem Hinweis auf die Ungerechtigkeit der westlichen oder israelischen Politik gekontert. Und zwischen der sicher kritikwürdigen US-Politik im Nahen Osten und westlicher Kultur wird kaum unterschieden. Schon 1991, nach dem Golfkrieg, klagten die wenigen liberalen Denker in der Region: Liberalismus und Aufklärung seien als westlich verschrien und durch die als ungerecht empfundene Politik des Westens diskreditiert.

Zu dieser Entwicklung tragen auch einige jener arabischen Regime bei, die eng mit Amerika liiert sind: Die ägyptische Presse ist an antiamerikanischer und antiisraelischer Hetze nicht zu übertreffen. Das Regime von Hosni Mubarak benutzt dieses Ventil, um den Unmut der Bevölkerung über das eigene Versagen umzulenken. Dabei verbindet sich der islamistische mit einem pseudolinken Diskurs: Die einen sehen die Übermacht des Westens als unvereinbar mit dem Islam an, die anderen kritisieren die imperialistische und kolonialistische Politik des Westens. Das spiegelt exakt die Aufteilung der Welt in Gut und Böse, wie sie der amerikanische Präsident vornimmt. Entweder, so Bush, unterstütze man die US-Politik gegen den Terror oder man gehöre zu den Terroristen.

In der Defensive, in der sich die arabisch-islamische Gesellschaften derzeit befinden, ist jede Idee, hinter der westliche Interessen vermutet werden, schnell diskreditiert. Diese Paranoia führt so weit, dass sich beispielsweise die Stiftungen der deutschen politischen Parteien in Jordanien des Vorwurfs erwehren müssen, sie seien Agenten westlicher oder israelischer Politik. Auch syrische Oppositionelle werden als "Agenten des Auslands" beschimpft, weil sie sich mit deutschen Politikwissenschaftlern treffen. Obwohl in der jetzigen Krise zunächst die Amerikaner die Opfer waren, hat die arabische Welt es doch geschafft, sich selbst schnell wieder in der Opferrolle zu sehen. Anstelle von Selbstreflexion löst dies jenen kollektiven Selbstverteidigungsreflex aus, dem sich viele arabische Intellektuelle nicht entziehen können. Sadiq al-Azm hatte das Unverständnis für die Bedeutung des Individuums schon vor 30 Jahren als größte Schwäche arabisch-islamischer Gesellschaften diagnostiziert.

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