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© Uwe Steinert

Porträt: Die Eiserne

Die Konzertagentin Dorothea Schlösser ist 95 – und kann sich noch gut erinnern, wie sie im Kalten Krieg russische Künstler in den Westen geschleust hat.

Gute Mädchen, kommen in den Himmel – freche aber kommen überall hin. Als sich Dorothea Schlösser 1963 vornahm, in Russland zu gastieren, war das so ziemlich das Waghalsigste, was sich eine Sängerin aus dem Westen ausdenken konnte. Zwei Jahre nach dem Bau der Mauer bewegte sich der Kalte Krieg auf seinen Höhepunkt zu, der Eiserne Vorhang zwischen den politischen Systemen war fest geschlossen. Es sei denn, man lernte die richtigen Leute kennen: Der Kulturattaché in der russischen Botschaft von Ost-Berlin jedenfalls ließ sich vom Charme der klassikbegeisterten Klassenfeindin irgendwie mitreißen, setzte Hebel in Bewegung und verschaffte ihr wie auch ihrem Pianisten Visa für Moskau.

Wer die mittlerweile 95-jährige Dorothea Schlösser heute in ihrem Haus in Wannsee trifft, kann sich gut vorstellen, welche Power sie vor einem halben Jahrhundert gehabt haben muss. Noch immer nämlich wirkt die feingliedrige alte Dame mit dem hennaroten Haaren äußerst entschlussfreudig. Dieser patente Pragmatismus war es wohl auch, der ihr nach der aktiven Sängerlaufbahn den Weg in eine Zweitkarriere als Konzertagentin wies. „In meiner Jugend galt es ja nicht als schicklich, sich als Frau vor zahlendem Publikum zu produzieren“, erinnert sich Dorothea Schlösser. Ihre Mutter zumindest konnte sich nicht zu öffentlichen Auftritten entschließen, obwohl sie eine begabte Pianistin war. Die Tochter aber gab dem Drang zur Bühne nach, sie verstand es, sich selber zu managen – und begann schließlich, auch für Künstlerkollegen Konzerte einzufädeln. Wer in der Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren Klassikinterpreten aus Russland engagieren wollte, kam an der Konzertdirektion Schlösser nicht vorbei.

Begonnen hatte alles mit jenem Moskau-Gastspiel 1963. In der Hauptstadt des Sowjetreichs lernt sie die Apparatschiks von der staatlichen Künstleragentur Goskonzert kennen. So mühsam sich die Kommunikation mit den offiziellen Herren zunächst auch gestaltet, stellt Dorothea Schlösser doch bald fest, dass durchaus Interesse an West-Auftritten volkseigener Stars besteht – wenn dabei genug Devisen herausspringen.

Schlössers erster Kunde ist gleich der liebe Gott persönlich: Swjatoslaw Richter. In Moskau erreicht sie ein Anruf von der Ehefrau des legendären Pianisten: Ob sie ihren Mann nicht bitte nach Deutschland bringen könne? Das traf sich gut, schließlich war Schlösser von ihrem eigenen Gatten mit den Worten verabschiedet worden: „Wenn du den Richter nicht bekommt, brauchst du gar nicht erst zurückzukommen!“ Richters Auftritt mit dem Radio-Sinfonie-Orchester Berlin unter dem blutjungen Lorin Maazel wird ein Riesenerfolg, für alle Beteiligten.

Daraufhin fragt der russische Kulturattaché an, ob sie den Mut habe, auch David Oistrach zu vertreten. Selbstverständlich hat sie! Am Tag nach seinem umjubelten Auftritt vertraut der große Geiger Dorothea Schlösser an, dass er sich gerne einen Anzug machen lassen würde. Als sie ihm ihren Schneider vermitteln will, druckst er herum – bis die Agentin erfährt, dass er von den 15 000 Mark, die als Gage verabredet waren, lediglich 750 Mark ausgezahlt bekommen hat.

Goskonzert, so lernt sie, kann als Monopolist selbst den bekanntesten Künstlern die Vertragsbedingungen diktieren. Anders als im Westen erhalten die Interpreten für ihre Konzerte nicht einen bestimmten Prozentsatz der Einnahmen, sondern werden mit einem festen Gehalt entlohnt. Je teurer sich also ein Interpret im Ausland verkaufen lässt, desto attraktiver wird er für Goskonzert. Nach dem Erlebnis mit Oistrach geht Dorothea Schlösser allerdings zu der Taktik über, bei den offiziellen Stellen zu niedrige Gagenbeträge anzugeben, um den Künstlern dann die Differenz heimlich auszuhändigen. „Alle wussten, dass Schwarzgeld fließt“, fügt Schlösser hinzu. „Doch diese Praxis wurde toleriert.“ Westwaren durften nämlich ganz offiziell mit nach Russland gebracht werden: „Noch bevor die Künstler im Hotel eincheckten, gingen sie auf Shoppingtour.“

„Erzähl doch mal die Geschichte mit Karajan“, mischt sich Wolfgang Weinert in das Gespräch ein, Schlössers 90-jähriger Ehemann. Und berichtet dann gleich selber, wie der Maestro beim Russland- Gastspiel der Berliner Philharmoniker 1968 nach drei Tagen bescheiden anfragte, ob er nicht auch einmal eine warme Mahlzeit haben könne. Mit Hilfe der Deutschen Botschaft in Moskau werden Spaghetti organisiert, die eine Etagenkellnerin im Hotel dann nach Karajans Anleitung zubereitet. Die ganze Reise ist überhaupt ein einziger Hindernislauf: Der bundesrepublikanische Botschafter darf das Orchester nicht auf dem Flughafen begrüßen, ein offizieller Empfang wird untersagt.

Besonders stolz ist Dorothea Schlösser darauf, dass es ihr später gelang, Karajan mit Richter, Oistrach und Mstislaw Rostropowitsch zu einer Aufnahme des Beethoven’schen „Tripelkonzerts“ zu bewegen. „Jeder von ihnen war so egomanisch“, erinnert sich die Agentin, „dass man sie jeweils nur einzeln zum Essen einladen konnte, damit sie auch garantiert im Mittelpunkt standen.“ Ein öffentlicher Auftritt der vier Megastars mit dem Werk kam übrigens niemals zustande – gerade darum entwickelte sich der Mitschnitt des Gipfeltreffens schnell zum Bestseller.

Schlössers Agentur läuft gut, 1973 kann sie sich ein Haus am Wannsee leisten. In den achtziger Jahren bewegt sie zusammen mit ihrem Mann ganze Theatertruppen. Einmal müssen sie parallel zwei Tourneen der Budapester Oper und des Moskauer Bolschoi-Theaters managen, mit insgesamt 600 Mitwirkenden. Der bereits schwer kranke Dmitri Schostakowitsch wohnt bei Dorothea Schlösser, als in Berlin seine 15. Sinfonie ihre deutsche Erstaufführung erlebt, Oistrach empfiehlt ihr seinen begabtesten Schüler, einen gewissen Gidon Kremer: „Bei seinem ersten Auftritt in Deutschland gingen nur 150 Tickets im Vorverkauf weg, den Rest haben wir verschenkt“, erinnert sich Dorothea Schlösser. Heute ist Kremer einer der größten Stars der Klassikszene.

Zu Schlössers Kunden gehört er schon lange nicht mehr. Nach 30 Jahren als Quasi-Monopolistin hat sie sich Mitte der neunziger Jahre weitgehend aus dem russischen Markt zurückgezogen. Nicht allein aus Altersgründen, sondern vor allem darum, weil ihr jener Raubtierkapitalismus nicht behagte, der sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durchsetzte.

Je mehr sich der Osten öffnete, desto größer wurde die Zahl der Glücksritter, die nun versuchten, aus der Perestrojka Kapital zu schlagen. Heute vertritt Dorothea Schlösser nur noch wenige Künstler, darunter der Dirigent Mariss Jansons, dessen Berlin-Gastspiele sie noch immer vermittelt. Wolfgang Weinert machte noch bis 2003 weiter, bevor er sich ebenfalls zur Ruhe setzte. Dank vieler helfender Hände können die beiden immer noch in ihrer Wannsee-Villa wohnen. „Jetzt leben wir für unsere Hunde und bringen ihnen Gesang bei.“

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