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Alice Diop spricht in „Nous“ mit dem Schriftsteller Pierre Bergounioux über ihre Herkunft.

© Foto: Arsenal/Promo

Die Filmemacherin Alice Diop: Damit die Menschen nicht verschwinden

Die französische Regisseurin Alice Diop wurde bereits in Berlin und Venedig ausgezeichnet. Nun zeigt das Arsenal eine Werkschau mit ihren Dokumentarfilmen.

Von Till Kadritzke

18 Minuten Familienleben, das ist alles, was an filmischen Spuren von der eigenen Kindheit übrig ist. Und die Aufnahmen decken sich kaum mit der Erinnerung, bemerkt die Dokumentarfilmerin Alice Diop aus dem Off, während wir grobkörnige Bilder eines Festessens sehen. Als Diop Jahre später erstmals selbst eine Kamera in die Hand nimmt, filmt sie ihren Vater, wie er von seiner Ankunft in Marseille nach der Überfahrt aus dem Senegal erzählt, und von den unzähligen Jobs, von denen er seither in Frankreich gelebt hat.

Filme machen, damit die Menschen nicht verschwinden

Die Aufnahmen der Familie und das erste eigene Video-Interview sind Teil von Diops jüngstem Dokumentarfilm, der bei der Berlinale als bester Film in der Reihe Encounters und zudem mit dem Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet wurde. Und doch ist „Nous“ keine minutiöse Rekonstruktion ihrer Familiengeschichte, keine bloße Autobiografie. Die eigenen Eltern stehen vielmehr beispielhaft für all jene, die für gewöhnlich keine Spur hinterlassen in der Geschichte.

Man filmt sie, hat Diop einmal gesagt, damit sie nicht verschwinden. Als Ausgangspunkt ihrer Spurensuche dient Diop die Eisenbahnstrecke RER B, die vom Nordosten von Paris quer durch die Stadt bis in den Südwesten führt. Entlang dieser Strecke porträtiert „Nous“ Orte und Menschen. Einen aus Mali geflohenen Automechaniker, der von unter der Motorhaube mit der Heimat telefoniert. Oder Diops Schwester, eine Krankenpflegerin, die ihren Patientinnen Hausbesuche abstattet. Aber auch eine Kathedrale, in der eine Gedenkveranstaltung für Ludwig XVI. stattfindet, die das ausschließlich weiße Publikum zu Tränen rührt. Schließlich auch das Gefangenenlager Drancy, von dem aus während der deutschen Besatzung etwa 65 000 französische Juden in die deutschen Vernichtungslager gebracht wurden.

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So widmet sich „Nous“ zwar wie schon Diops frühere Filme vorwiegend den nördlichen Pariser Vorstädten, will dabei aber nicht bloß auf Erfahrung und Anerkennung einer bestimmten Community hinaus. Weniger ein „Wer sind wir?“ als ein „Wer ist Wir?“, fragt der Filmtitel. Wer kommt vor im nationalen Bewusstsein? Mit ihrer Gegenüberstellung disparater Elemente französischer Geschichte und Gegenwart nimmt Diop ein postmigrantisches, oder in ihren Worten: kreolisiertes Frankreich in den Blick, in dem sich Monarchie und Revolution, Kollaboration und Vernichtung, Kolonialismus und Arbeitsmigration überlagern.

Der Regionalzug als französisches Symbol

Für das Wir, das dabei entsteht, scheint der Zug tatsächlich ein passenderes Symbol als Flagge, Hymne oder Revolutionsmythos. Inspiriert wurde Diop durch François Masperos 1989 veröffentlichte Reportage „Die Passagiere des Roissy Express“. Mit diesem Buch in der Hand hat Diop entlang der Bahnlinie recherchiert und Menschen kennengelernt, die sie zwei Jahre später mit ihrem Kamerateam und einem klaren Plan wieder aufgesucht hat. Wohl auch wegen dieser Mischung aus intensiver Recherche und kurzem Dreh fühlt sich „Nous“ zugleich konzentriert und offen an, wie ein Essayfilm ohne zentrale Erzählinstanz, selbst wenn Diop manchmal selbst auf der Tonspur zu hören ist.

(Das Arsenal zeigt vom 25. bis 30. November eine Werkschau mit den Dokumentarfilmen von Alice Diop. Am 30. November läuft ihr Spielfilmdebüt „Saint Omer“, mit dem Diop im September in Venedig zweifach ausgezeichnet wurde.) 

Im letzten Teil tritt die Regisseurin dann selbst in Erscheinung. Diop sitzt am Tisch des Schriftstellers Pierre Bergounioux, der auf ihren Wunsch aus seinen Tagebüchern vorliest, einer weiteren Inspiration für den Film. „Ihr Leben könnte nicht entfernter von meinem sein, und doch bewegt es mich, als sei es mein eigenes“, staunt Diop. Bergounioux, dessen Werk von den Menschen aus der ländlichen Region Corrèze erzählt, scheint weniger verwundert: „Natürlich gibt es eine Verbindung zwischen einem jungen Mädchen aus den nördlichen Vorstädten und einem ländlichen Kretin wie mir.“

Hier bei Tisch, wo der literarische Spurensammler aus der oft verlachten Provinz mit der filmischen Spurensammlerin aus den oft verteufelten Banlieus übers Spurensammeln spricht, findet „Nous“ zu sich. Diops Film ist Patchwork und zugleich eine Theorie des Patchworks. Im Herzen aber trägt es die Menschen, die Diop vor dem Verschwinden bewahrt: die jungen Mädchen etwa, die Karten spielend über Jungs lästern, oder die Jungs, die in Campingstühlen sitzen und ironisch, aber voller Inbrunst einen alten Piaf-Chanson mitsingen.

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