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Kultur: Die furiose Fuge zum Finale

Berliner Jazzfest 2003: Unter der neuen Leitung von Peter Schulze braucht das Publikum fünf Tage, um sich vom anfänglichen Schrecken zu erholen – eine Bilanz

Am Ende ballte sie die Fäuste. Und drosch auf die Tasten des Flügels, so schnell sie konnte, die ganz tiefen Töne zuerst, dann höher und höher. Bis ihr hüftlanges Haar zu fliegen begann. Ein paar Meter neben ihr der tosende Trommler, ein Rambo-Zambo mit durchnässtem T-Shirt und rutschendem Kassengestell. Das einzig passende Finale für ein Konzert, das über eine Stunde lang ungerade Rhythmen im präzisesten Schnellfeuer gegen die Wände des Berliner Quasimodo geballert hatte. Man hätte der Pianistin Satoko Fujii und ihrem Partner Tatsuya Yoshida um den Hals fallen mögen dafür. Endlich krachte einem der Berliner Jazzfest-Jazz in den Magen. Und endlich bekam man eine Ahnung, wie ein gelungener „Japan-Schwerpunkt“ hätte aussehen können.

Es begann nämlich ganz anders – mit einem Wort: katastrophal (siehe Tagesspiegel vom 9.11.) . Miharu Koshi tischte beim Eröffnungskonzert im Haus der Berliner Festspiele eine so peinliche wie belanglose Moulin-Rouge-Satire auf. Der Auftritt war als Provokation gedacht, doch er machte nur ratlos. Kaum überzeugender der Trompeter und Keyboarder Jun Miyake, dem als Ko-Kurator nichts Besseres einfiel, als den Jazzrock der Siebziger aufzuwärmen, garniert mit ein paar fernöstlichen Bambushölzchen.

Dann der dritte Abend, 18 Uhr: Der japanische Pianist Masabumi Kikuchi betritt die Bühne, seine Schritte wacklig, sein Blick glasig. 18.30 Uhr: Dem Vierundsechzigjährigen bleibt die Luft weg. Eine Sekunde lang Stille. Vorbei sein schmirgelndes Stöhnen und Würgen. Doch ach: Kikuchi hustet zweimal, legt das Kinn auf die Brust, und weiter geht es mit seinem Gesang des Grauens. Eine Bassfigur links, ein paar dissonante Akkorde rechts. Mehr geht nicht. Obwohl der Mann Platten gemacht hat, auf denen er nicht ächzt, sondern spielt, und das richtig gut. 18 Uhr 25: Kikuchi fragt nach der Uhrzeit. Wahrscheinlich wünscht er sich, dass alles schnell ein Ende habe. Das wünschen sich die Leute auch. Etliche sind schon geflüchtet.

Eine Lektion, die das Publikum zu diesem Zeitpunkt bereits gelernt hatte: Wenn es unerträglich wird – einfach verschwinden! Man musste schon fürchten, dass die Massenflucht der Zuhörer zum eigentlichen Themenschwerpunkt würde. So unpassend wäre das gar nicht gewesen. Peter Schulze, der neue künstlerische Leiter, wollte schließlich zeigen, dass interessanter Jazz aus Migrationsströmen entsteht. Ein gewagter Dreisatz: Die These, dass Migrationen in den letzten Jahrzehnten vor allem in Europa stattgefunden hätten, brachte Schulze zu dem Schluss, der spannendste Jazz komme – genau: aus Europa. Kein Wunder, dass er die angekündigte Fokussierung auf die Szene Japans halbherzig anging. Vier Bands, das sollte reichen. Nur: Es reichte nicht.

Man muss sich die letzten Jahre in Erinnerung rufen, um das Ausmaß der Enttäuschung über den Auftakt dieses Festivals zu verstehen. Zwei Jahre ist es her, da hatte Joachim Sartorius, Intendant der Berliner Festspiele, das vor sich hin dümpelnde Jazzfest mit jährlich wechselnden Regionalschwerpunkten auf neuen Kurs gebracht. Die Leidenschaft, mit der die künstlerischen Leiter Nils Landgren und John Corbett ihre Heimatszenen Skandinavien und Chicago den Berlinern vorstellten, strahlte auf die ganze Stadt aus. Im vergangenen Jahr standen die Besucher auch bei obskuren Avantgarde-Gruppen Schlange. Da kam den Veranstaltern eine Idee: Jetzt, wo alles so gut lief, müsse man alles anders machen. Statt sich weiter den kreativen Input von außen zu holen, engagierte man einen einheimischen Leiter, und das gleich für vier Jahre. Dass Peter Schulze, zweifelsohne ein verdienter ARD-Mann, wie ein Kontrapunkt zum charismatischen Nils Landgren auftritt, erleichterte die Sache nicht. Dass er sein Programm wie ein Mosaik zusammenstellte, dessen Steine auf den ersten Blick kein erkennbares Bild ergaben, sorgte freilich für miese Stimmung.

Ein Glück, dass das Festival diesmal einen zusätzlichen Abend bekam (weswegen die offizielle Zuschauerzahl mit 10 500 das Vorjahr noch übertrifft). Fünf Tage, das reichte gerade, um sich vom anfänglichen Schrecken zu erholen. Und plötzlich entdeckte man Bands, denen die Musik sogar Spaß macht.

Der Klarinettist Louis Sclavis brachte für seine folkloristisch-avantgardistische Wanderung durch Neapel Médéric Collignon mit. Der wirbelte mal auf dem Drumcomputer, dann spielte er Trompete, und zum Schlussakkord quietschte seine Stimme wie eine Geige in höchsten Lagen. Stimmt ja, bei Jazz-Konzerten darf man auch lachen. Jaga Jazzist, ein Ensemble von zehn coolen Norwegern, gelang es im Tränenpalast ohne die geringste Anstrengung, elektronische Club-Grooves und Jazz-Instrumente miteinander zu verweben. Das hatte nichts von der Vorhersehbarkeit, mit der die französische Gruppe NoJazz am Abend zuvor Drum and Bass und Bebop nebeneinander gelegt hatte. Jaga Jazzist schuf aus den sich verdichtenden Themen eine kleine Kunst der Fuge, und damit auch nichts mechanisch wirkte, kamen noch ein paar Sphärensounds obendrauf.

Das ließ selbst den inoffiziellen Höhepunkt des Jazzfests, den gemeinsamen Auftritt des Matthew Shipp Trios mit dem Platten-Maestro DJ Spooky, verblassen. Zwar baute Shipps Schlagzeuger Guillermo E. Brown geschickt eine Brücke zwischen dem Free Jazz des Klaviertrios und dem Hip-Hop von Spooky. Doch der DJ ließ sich die Chance entgehen, das Geschehen mit seinen Plattenspielern zu bestimmen. Und doch war es genau das, was das Jazzfest braucht: Musik, die, wenn sie schon nichts mit Jazz zu tun haben will, zumindest einer lebendigen Szene entstammt. Musik, die nicht nur fremd klingt, sondern irgendwo auf dieser Welt wenigstens die Eingeweihten begeistert. Ob das mit Migration zu tun hat oder nicht, ist dann vollkommen egal.

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