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Kultur: Die halbe Geschichte

50 Jahre documenta: Die Kasseler Jübiläumsausstellung fischt im Trüben

Vor fünfzig Jahren wurde in Kassel die erste documenta eröffnet. Ihr Erfinder, der umtriebige Kunstprofessor Arnold Bode, konnte den nachhaltigen Erfolg seiner Schöpfung nicht ahnen. Wohl hat er ihn gewünscht. Schon sein erstes Konzeptpapier sah die Fortsetzung in vierjährigem Turnus vor. So kam es, wenn auch aus den vier Jahren zunächst durch Verzug, dann als Regel fünf wurden. Die documenta, entworfen als „Museum der 100 Tage“ wurde zur weltweit einflussreichsten Kunstausstellung der Gegenwartskunst. Ihre frühen Folgen – 1955, 1959, 1964, 1968, 1972 – wurden Legende.

So durfte man gespannt sein auf die Jubiläumsausstellung, die das Kasseler Museum Fridericianum dem bedeutendsten Ereignis ausrichtet, das regelmäßig in seinen Mauern stattfindet. Wer das Glück besitzt, eine der älteren, ins Mythische entschwundenen documenta-Ausgaben erlebt zu haben, mochte sich selige Wiedererinnerung erhoffen, andere und zumeist Jüngere Information über die spannende Geschichte. Die Ankündigung, den dokumentarischen Teil der Ausstellung mit einer wenn auch kleinen Auswahl aus den insgesamt rund 15000 je in Kassel gezeigten Kunstwerken sinnlich zu ergänzen, machte zusätzlich neugierig.

Doch dann muss man gleich im Eingang des Fridericianums eine Warnung zur Kenntnis nehmen. „Die Ausstellung vermittelt ein anderes, ein vielfältiges, brisantes, kontemplatives, wirklichkeitsnahes und subversives Bild einer Kunstgeschichte der letzten 50 Jahre“, heißt es da in peinlichem Selbstlob des Kuratorenteams um den Braunschweiger Kunstwissenschaftler Michael Glasmeier. Wie so oft soll Geschichte gegen den Strich gebürstet werden, bevor sie überhaupt erzählt worden ist. Das Ergebnis ist danach.

Es wäre die Aufgabe der gegenwärtigen Ausstellung gewesen, Klarheit zumindest anzustreben. Das gilt für die elf kubischen Ausstellungsräume, in denen auf Fototafeln und in allerhand dokumentarischem Kleinkram, von der Einladung zum „Cocktail-Empfang“ 1955 bis zur Sammlung unterschiedlicher Eintrittskarten 1972, wenigstens ein Hauch von Zeitgenossenschaft übermittelt wird. Dieser Teil der Ausstellung soll anschließend über das Stuttgarter Institut für Auslandsbeziehungen weltweit auf Tournee geschickt werden. Doch mussten leider Künstler von heute um „Interventionen“ gebeten werden, als ob es auch nur ein Jota zum Verständnis der Historie beitrüge, was beispielsweise Friederike Feldmann mit einem Tapetenentwurf Arnold Bodes anzufangen sich bemüht.

Immerhin, die Schwarz-Weiß-Aufnahmen zumal der ersten drei documentas lassen erahnen, welches ausstellerische Genie Bode besaß. Wie Bode, der Macher, die von Werner Haftmann, dem Theoretiker (und nachmaligen ersten Direktor der Neuen Nationalgalerie Berlin), konzipierten Werkauswahlen ins kriegsbeschädigte und karg geflickte Fridericianum hineinkomponierte, ist nie und nirgends mehr erreicht worden. Dass damit in Kassel ein fordernder Maßstab vorgegeben ist, scheint den Kuratoren nicht in den Sinn gekommen zu sein.

So kommt, was kommen musste – das Debakel im ersten Obergeschoss des später durch Renovierung komplett verschandelten Fridericianums. Rund 220 Werke haben Glasmeier & Co. ausgewählt. Das konnte nur eine subjektive und angreifbare Auswahl sein; aber dass sie so angreifbar, so zufällig, so tatsächlich abseitig und bisweilen abstrus ausfiel, vermag man angesichts des Jubiläumsthemas nicht zu glauben. In der hohen Mittelhalle steht Lehmbrucks „Knieende“, vielleicht das einzige Werk, das es gleich zweimal zu documenta-Ehren gebracht hat („d1“ und „d3“): eine Ikone des vom Pathos der Moderne durchzogenen Bode-Haftmann’schen Kunstverständnisses, aber doch alles andere als ein Beleg für die Unterschlagungen der Kunstgeschichtsschreibung, die die Kuratoren behaupten dingfest zu machen. Aber derlei Vorgaben glauben sie selbst nicht recht. Augenfälliger ist der Medien-Mix, in den sie jedes Werk hineinstrudeln lassen – und den sie sich augenscheinlich bei Harald Szeemanns überragender „d5“ von 1972 abgeschaut haben: Malerei neben Zeichnung, Skulptur und Installation kreuz und quer, Klang und Film und dazu Fotografie von Weltgrößen wie Walker Evans, Robert Capa und Weegee, als ob es auch diese Namen gegen die vermeintliche Ignoranz des Kunstbetriebs zu retten gälte.

Schade, dreimal schade. Denn das Thema „50 Jahre documenta“ eröffnet doch einen Ozean von Geschichte und Geschichten, einen nie versiegenden Quell der Debatten – eröffnet, dies vor allem, Zeitgenossenschaft. Was uns aus den Fotografien, ob von 1955 oder 1972, entgegenblickt, ist unbedingte Zeitgenossenschaft, ist zugleich ein hohes Maß an kuratorischer Verantwortlichkeit. Wenn die gegenwärtige Kasseler Ausstellung dazu etwas bezeugt, dann den offenkundigen Verfall eines Metiers, vor dem sich die Könnerschaft der Bodes und Nachfolger umso strahlender abhebt.

Kassel, Kunsthalle Fridericianum, bis 20. November. Zweibändiger Katalog im Steidl Verlag, Göttingen, 38 €.

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