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„Die Kuh“ von Béla Kádár aus dem Jahr 1917. 

© bpk/Stiftung Saarländischer Kulturbesitz/ VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Die Jahre 1910 bis 1993 : Ungarns Avantgarde in Berlin

Die Berlinische Galerie beleuchtet eine vergessenes Kapitel der hauptstädtischen Kunstgeschichte.

Éva Besnyö ist 20 Jahre alt, als sie 1930 aus Budapest in Berlin eintrifft. Mit der Kamera in der Hand streift sie durch eine Stadt im Umbau. Auf der U-Bahn-Großbaustelle Alexanderplatz beobachtet sie die Arbeiter. Eine Murmeln spielende Jungsbande fällt der Fotografin vor einem Hauseingang auf: ein Bild wie aus Kästners „Emil und die Detektive“. Der Radrennbahn im Grunewald gibt Besnyö einen rasanten Dreh, allein durch den dynamisch gewählten Bildausschnitt.

Im Strandbad Wannsee fotografiert sie junge Sonnenbadende, ganz aus der Nähe mit fast zärtlichem Blick. Distanzierter hat ihr Landsmann Martin Munkácsi die Badeanzug- und Bubikopfmädels abgelichtet. Als Hausfotograf des Ullstein-Verlags arbeitete er für den Bilderhunger eines Millionenpublikums.

So arriviert war Judit Kárász nicht. Neben ihrem Job als Laborassistentin erprobte auch sie die gewagten Bildstrategien des Neuen Sehens. Hoch oben vom neuen Berliner Funkturm fing sie im schwindelerregenden Tiefblick die filigrane Stahlarchitektur ein. Kárász hatte am Bauhaus studiert. Geboren wurde sie 1912 im südungarischen Szeged.

Berlin war ein Magnet, eine Anlaufstelle für viele. Dass gerade Ungarinnen und Ungarn in der Zwischenkriegszeit den hauptstädtischen Kunst- und Medienbetrieb enorm bereicherten, zeigt die Berlinische Galerie in einer breit angelegten Ausstellung mit 200 Gemälden, Grafiken, Fotos und Skulpturen („Magyar Modern. Ungarische Kunst in Berlin 1910-1933, Berlinische Galerie, bis 6. Februar, Mi - Mo 10-18 Uhr. Katalog beim Hirmer-Verlag (272 S., 49,90 €) .

Sogar moderne Gobelins sind zu entdecken. Noémi Ferenczy webte ihrer „Reisigträgerin“ das kommunistische Hammer- und Sichelemblem in die Randbordüre. Dass ihre Bildteppiche in den 1920ern von der Berliner Presse euphorisch besprochen wurden, wusste selbst die Leiterin des ungarischen Ferenczy-Museums nicht, wie Kurator Ralf Burmeister erzählt. Unter den gezeigten 42 Künstler:innen sind, betont er, immerhin 20 Prozent Frauen.

Die Expressionisten oder Konstruktivisten passten perfekt in sein Galerieprofil

Aber in den Avantgarde-Zirkeln dominierten seinerzeit wie überall die Männer. Sie fühlten und inszenierten sich als Vorkämpfer des Neuen, etwa der Berliner „Sturm“-Impressario Herwarth Walden. Gerade er machte seine Galerie und Medienplattform, die gleichnamige Zeitschrift, zum Sprungbrett der ungarischen Avantgarde in den Westen. Damit rückt er als Schlüsselfigur ins Zentrum Ausstellung.

Wie Walden und sein ungarischer Sparringspartner Lajos Kassák, der agile Wortführer moderner Kunst in Budapest und später in Wien, sich gegenseitig ihre neu entdeckten Künstler zuspielten, lässt sich anhand der ausgestellten Titelbilder ihrer Zeitschriften verfolgen. Waldens Sturm bot etwa Béla Kádár, Sándor Bortnyik, Lajos d´Ebneth und immer wieder László Moholy-Nagy eine Bühne.

Die Expressionisten oder Konstruktivisten passten perfekt in sein Galerieprofil. Der Kollege Kassák wiederum machte das ungarische Lesepublikum seiner Zeitschrift „Ma“ (Heute) mit Sturm-Künstlern wie Franz Marc oder Maria Uhden bekannt. Teilweise hängen die abgebildeten Kunstwerke jetzt gleich nebenan im Original.

Schon im nächsten Raum bricht die Revolution herein

Bei der Auswahl ließ die Berlinische Galerie in Kooperation mit der ungarischen Nationalgalerie höchste kunsthistorische Präzision walten. Alle ausgestellten Arbeiten waren schon damals in Berlin zu sehen oder entstanden an der Spree. Eine echte Wiederentdeckung sind die wuchtig-konstruktiven Geometrien von Peter László Péri.

Er deklinierte sein knappes Vokabular in Linolschnitten wie in Betonreliefs durch, wandte es aber auch auf Figürliches an. Seine Skulptur einer lässig Liegenden formte Péri in kubischen Formen ebenfalls aus dem modernen Werkstoff Beton. Er war als Bauarbeiter ausgebildet. Den farbintensiv glühenden Gemälden von János Mattis Teutsch dagegen sieht man die Wahlverwandtschaft zum Blauen Reiter an.

Hugó Scheiber, Auf der Straßenbahn, 1926.
Hugó Scheiber, Auf der Straßenbahn, 1926.

© Courtesy Ernst Galerie, Budapest

Ihren ersten großen Auftritt hatte Ungarns Kreativszene in Berlin 1910. Die Secession am Kurfürstendamm räumte den 200 Werken ihrer Gäste das gesamte Ausstellungshaus ein. Zuvor hatte Paul Cassirer persönlich die Ateliers in Budapest inspiziert. Die damals vertretene junge Gruppe der „Acht“ bildet im ersten Raum den Auftakt der Ausstellung. Ihre an der französischen Moderne geschulten Landschaften, Blumenstillleben und Akte wirken reichlich gediegen. Schon im nächsten bricht die Revolution herein. „Fegyverbe!“, Zu den Waffen!, schreit ein rotschwarzes Riesenplakat 1919.

Entworfen hat es Róbert Berény, der eben noch à la Cézanne subtile Farbtonwerte pinselte. Martialisch muskelbepackte Arbeitergestalten stürmen voran: die Monarchie wird vom Thron gekickt, das Parlament rot angepinselt und die Kommunistenfahne über den Fabriken geschwungen.

Solche Plakate waren das Medium der Stunde, nachdem sich in Ungarn eine Räteregierung nach Sowjetvorbild durchgesetzt hatte. 133 Tage später wischte die Konterrevolution alle Aufbruchsutopien beiseite. Aufflammender Antisemitismus kam hinzu. Die durchweg links stehende Künstlerschaft setzte sich ins Ausland ab, etwa nach Berlin.

Dass diese Zuflucht ein Jahrzehnt später, nach Hitlers Machtergreifung, kein sicherer Ort mehr war, macht der letzte Raum klar. Pressefotograf Martin Munkácsi hält fest, wie sich auf dem Tempelhofer Feld zehntausende Arme beim Hitlergruß in den Himmel recken. Daneben flimmert ein Avantgardefilmdokument aus demselben Jahr. Moholy-Nagy, zwischenzeitlich zum Bauhausmeister berufen, experimentierte gänzlich abstrakt mit der Tonspur.

In Berlin gab es für so etwas nun keinen Freiraum mehr. Der Künstler setzte seine Arbeit in den USA fort. Die Karikaturistin Jolán Szilágyi hatte das politische Grauen schon 1932 kommen sehen: Ihr Fleischwolf verarbeitet Hakenkreuze zu eisernen Ketten.

Wie die nun erneut zur Migration gezwungenen Ungarn Berlin auch architektonisch mitgestaltet hatten, ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Kurator Ralf Burmeister, gebürtiger Berliner, bekennt viel dazugelernt zu haben über seine Stadt. Das denkmalgeschützte Mommsenstadion am Funkturm etwa entwarf Fred Forbát, zuvor Mitarbeiter von Bauhaus-Chef Walter Gropius.

In der Reichsforschungssiedlung Haselhorst realisierte er hunderte Wohnungen für den Minimalbedarf, zweckmäßig und kostengünstig. Marcel Breuer, gebürtiger Ungar, arbeitete eher für die gehobene Klientel. Mit seinen sportlich-chicken Stahlrohrmöbeln richtete sich 1927 der Theaterregisseur Erwin Piscator ein. Nur Zeitschriftenfotos dokumentieren es. Oskar Kaufmanns Vergnügungstempel dagegen erfreuen Berlins Theaterpublikum noch immer, Abend für Abend: Hebbel-Theater, Volksbühne und Renaissancetheater tragen die melodiöse Handschrift des in Újszentanna geborenen Architekten.

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