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"Luna Papa" in den Kinos: Die Kritiker sind begeistert

Entweder du hebst die Welt aus den Angeln oder die Welt dich. Bakhtiar Khudojnazarov entschied sich für die erste Möglichkeit.

Entweder du hebst die Welt aus den Angeln oder die Welt dich. Bakhtiar Khudojnazarov entschied sich für die erste Möglichkeit. Lasst Kühe regnen! Wenigstens im Film.

Kaum jemand kennt Bakhtiar Khudojnazarov, den Regisseur, den Tadschiken aus Prenzlauer Berg. Morgen wird sich das ändern. Denn morgen läuft sein zweiter Film an, den viele für seinen ersten Film halten. "Luna Papa". Ein Geniestreich!, befand diese Zeitung nach erster Festival-Ansicht. Von dem Regisseur wird man noch hören, meldete die "Süddeutsche". Khu-doj-naz-arov. Kann man sich diesen Namen merken?

Er wartet im Foyer des Kempinski-Hotels. Der Filmverleih fand, dies sei der geeignete Ort für ein Gespräch. Der vor regnenden Kühen sicherste Platz der Erde. Und dazu dieses Dach. Bestimmt kann es nicht mal fliegen. Konservativ denkende Menschen würden ein Kempinski-Hotel ohne Dach sicher für stillos halten. Khudojnazarov nicht. So lange die Dächer fliegen können, ist Hoffnung. So ließe sich "Luna Papa" auch zusammenfassen. Wahrscheinlich muss man so denken, wenn man aus Tadschikistan kommt.

Die Interview-Suite ist noch nicht fertig. Ich muss erst die Betten beziehen, sagt das Zimmermädchen und stellt ihren Eimer hart im Flur ab. Es klingt wie ein Argument. Wir versichern, das Bett nicht zu benutzen. Der Ausdruck von Missbilligung im Zimmermädchen-Gesicht nimmt zu. Natürlich, sie weiß auch nicht, wer dieser Mann mit den schwarzen Locken und dem etwas weichen Gesichtsausdruck ist. So sehen Verletzbare aus. Menschen, die nicht mehr an Rettung, dafür um so mehr an fliegende Kühe glauben. Vielleicht hätte das Zimmermädchen Bett und Eimer sofort vergessen, wenn Khudojnazarov seinen Hauptdarsteller mitgebracht hätte. Moritz Bleibtreu. Oder besser noch Tom Cruise. Obwohl Tom Cruise nur indirekt mitspielt. Denn "Luna Papa" handelt von einem tadschikischen Mädchen, das gern Schauspielerin werden möchte und die Stimme von einem hört, der sagt, er kenne Tom Cruise. Da fällt das tadschikische Mädchen in Ohnmacht, und hinterher ist sie schwanger. Ist jemals eine Schwängerung so surreal-einzigartig gefilmt worden? Gleichsam das Schwangerwerden mit Tom Cruise im Ohr - oder mit der Stimme dessen, der Tom Cruise kennt.

Ein Problem bei derartigen Begebenheiten, die oft ungefilmt bleiben, ist jedesmal, dass man sie irgendwann anderen Menschen mitteilen muss. Zum Beispiel tadschikischen Vätern. Und plötzlich weiß man, warum Khudojnazarov in diesem Hotel so fremd wirkt. Weil eine Szene, wo zwei Menschen zusammen am Tisch sitzen und einfach reden, in seinem Film gar nicht vorkommt. Als das Mädchen seinem Vater sagen will, dass es schwanger ist, bindet es ihn zuerst an einen Stuhl, die Hände sorgfältig auf dem Rücken an die Lehne, die Füße an die Stuhlbeine. Eine typische Khudojnazarov-Szene. Seltsam, dass einem Worte wie "typisch" schon jetzt einfallen, nachdem man einen einzigen Film von ihm sah.

Das Auswärtige Amt warnt

Natürlich hätte Khudojnazarov auch einen richtig kämpferischen, anklagenden Aufklärungsfilm machen können - Väter, bringt nicht eure Töchter um! Mittelasien, besinne dich! -, aber versteht sich die Aufklärung denn auf die Schönheit, auf die Liebe? Können Liebende Aufklärer sein? - Nein, Bakhtiar Khudojnazarov ist kein kämpferischer Typ. Er war es schon in der Sowjetunion nicht, als er probehalber Radioreporter wurde. Wegen des Geldes. Zwar liebte er die Sowjetunion nicht, aber hätte er den Auftrag für eine Reportage über den heldenhaften Kampf der Werktätigen an der Produktionsfront deshalb ablehnen sollen? Schon damals besaß Khudojnazarov diesen untrüglichen Sinn fürs Authentische. Du musst es erfinden! Genau wie jetzt in "Luna Papa" ein tadschikisches Dorf. Das beste tadschikische Dorf ist ein selbstgebautes Dorf. Der beste sozialistische Brigadeleiter war Khudojnazarovs Freund. Der war viel überzeugender als ein naturbelassener Brigadeleiter. Und muss es nicht der Ehrgeiz eines schöpferischen Radioreporters sein, die einmalige Atmosphäre einer großen Fabrik mit ein paar Freunden auch zu Hause im Wohnzimmer erzeugen zu können? - Khudojnazarov ist noch immer stolz auf diese Reportage. Fantasie ist fast immer subversiv. Das Kämpferische und das Poetische schließen sich wohl wirklich aus. Sie kommen aus grundverschiedenen Wurzeln.

Genau wie Khudojnazarov und das Auswärtige Amt. Der Unterschied zwischen beiden ist, dass das Auswärtige Amt Mittelasien nicht liebt. Es hat davor gewarnt, den Film dort zu drehen. Zu viele Aufständische, unsichere politische Lage, Kriegsgefahr, hat es gesagt. Sicher hat es auch gewusst, dass für Drehgenehmigungen und ähnliche Dinge die Mafia zuständig ist. Und dass der riskanteste Weg, dort mit Geld umzugehen, die Überweisung ist. Deshalb flog ein Kurier mit 50 000 Mark in der Unterhose zum Set. Der Set wiederum - das selbstgebaute Dorf - lag 30 Kilometer von dem alten Sanatorium entfernt, in dem die Crew mit dem Wohlwollen der Mafia wohnte. Manchmal kam ein Sandsturm, und wo eben noch die Beinahe-Straße war, gab es nur noch Wüste.

Die Kakerlake im Ohr

Und so ein Land kann man lieben? Khudojnazarov nickt begeistert und trinkt noch eine Tasse Kaffee. Solchen, nach dem sich Moritz Bleibtreu so sehnte, als er in Taschkent mit einer daumennagelgroßen Kakerlake im Ohr, die nicht mehr hinauswollte, bereits morgens immer eine kräftige Fleischsuppe bekam. Die Fleischsuppe blieb zwölf Wochen lang. Die Kakerlake verließ ihn jedoch schon früher. Ein Arzt ertränkte sie in Moritz Bleibtreus Ohr. In scharfem Alkohol. Vielleicht unter diesen nie gekannten Ohrschmerzen, die dem langsamen grausamen Fuseltod der Kakerlake in seinem Kopf merkwürdig entsprachen, verstand Bleibtreu zum ersten Mal die Warnung des Auswärtigen Amtes. Und zugleich begriff er Mittelasien als geistigen Zustand. Vielleicht darum hielten die meisten ihn für einen Tadschiken, als er schließlich am Set ankam. Vielleicht wurde er deshalb so gut als geistig verwirrter Kriegsheimkehrer, Dorftrottel und Bruder der von der Stimme, die Tom Cruise kannte, geschwängerten Schwester.

So schnell ist man ein anderer. Sicher fährt das Auswärtige Amt deshalb nicht nach Mittelasien. Unwahrscheinlich jedoch, dass es auch wusste, wer die nächtlichen Besucher waren, die jede Nacht übers Meer in das nagelneu-uralte Dorf am Kaspischen Meer kamen. Sie wollen uns töten!, berichteten allmorgendlich die einheimischen Arbeiter, die die Häuser mit den fliegenden Dächern bauen mussten. Garantiert hätte das Auswärtige Amt das sofort geglaubt. Khudojnazarov nicht. Er sei dann nachts selbst dageblieben. Niemand fuhr übers Meer. Das Rätsel dauerte fort. Bis Khudojnazarov erfuhr, dass es früher genau am gegenüberliegenden Ufer eine Stadt gab. Die merkwürdig mordlüsternen Seefahrer, schlussfolgerte der Regisseur sofort, sind also die Geister der Toten. Denn man hatte zwar die Mafia gefragt, ob man hier ein Dorf errichten darf, aber das Einverständnis der toten Stadt am anderen Ufer glatt vergessen. Die Arbeiter wussten genau, dass das Frevel ist. In traditionellen Kulturen sind die Toten eben lebendiger als die Lebenden.

Der Regisseur beginnt entschlossen, die Kaffeetassen zu verrücken, bis in der Mitte ein kleines Loch freibleibt, um mit fester Stimme zu erklären: Das ist unser Set! Ringsum, kilometerweit alles trocken, kein Sturm - Khudojnazarov fährt über die Tischplatte - aber hier - er sticht in das Loch - Chaos, Regen, Sturm, Dorfuntergang. Alles kaputt. Er schaut triumphal auf. Das sollen wir ihm erstmal erklären! Nun gut, er selbst hatte auch Schwierigkeiten, der Versicherung diesen Tatbestand nahezubringen. Keine Wetterstation ringsum hatte das Unwetter aufgezeichnet, es regnete und stürmte doch nur bei ihnen im Kaffeetassenkreis. Jeder andere hätte jetzt wohl selbst zahlen müssen. Nur die Filmleute nicht. Sie haben den Hagel gefilmt!

Warum man Hühner köpft

Doch Khudojnazarov denkt noch heute oft über die Worte des örtlichen Arztes nach, der sich überhaupt nicht wunderte über die Katastrophe. Schließlich hätten sie das Dorf nicht eingeweiht. Und das Einverständnis der toten Stadt am anderen Ufer hätten sie auch nicht gehabt. Etwas später fand jeder, auch Moritz Bleibtreu, dass man nicht auf Aufklärung bestehen soll, wo Magie viel besser hilft. Wenn wieder Regen die Dreharbeiten unterbrach, griff sich irgendein beherzter Tadschike ein Huhn, trat hinaus, köpfte das Huhn, ließ es ausbluten, und der Regen hörte auf. Die Menschen dort unten fühlen einfach bestimmte Energien. Und er glaube daran, sagt Khudojnazarov.

Kühe fallen in Mittelasien alle Tage vom Himmel, wie Khudojnazarov versichert, schon weil die Menschen für etwas größere Entfernungen nur das Flugzeug haben und vor Flugzeugen wiederum denselben Respekt wie vor einem Traktor. Warum soll man da nicht unterwegs mal die Tür aufmachen können, wenn es zu heiß ist? Khudojnazarov kennt ungefähr vier verschiedene Kuh-fällt-aus-Flugzeug-Varianten. Aber für den Film gibt es nur eine. Er hat sie gefunden.

Dann lehnt er sich plötzlich zurück, als begreife er selber nicht, warum er hier ist und jeder ein Interview mit ihm will. Dass sich überhaupt so viele Länder für regnende mittelasiatische Kühe interessieren. Und 4,5 Millionen Mark dafür ausgeben. Österreich, Deutschland, Russland, die Schweiz, Frankreich, alles Koproduzenten. Meistens gibt ein derartiges Länderverzeichnis unter einem Filmtitel Anlass zu schlimmen Befürchtungen. Filmkritiker haben das Wort "Europudding" dafür gefunden. Ein "Europudding" schmeckt nach nichts. Den universalistischen Film gibt es nicht. "Luna Papa" dagegen schmeckt 100-prozentig nach Mittelasien. Konnte nur ein 100-prozentiger Tadschike diesen Film machen? Khudojnazarov versteht die Frage nicht. Er war als Kind schon ebenso in Duschanbe zu Hause wie in Moskau. Für seine Familie war die Sowjetunion Realität. Er ist dankbar dafür, dass er beides in sich trägt, das Europäische und das Asiatische. Und sein Film sei auch kein tadschikischer Film, sondern ein mittelasiatischer.

Khudojnazarov begreift die Kirgisen und Usbeken nicht, die heute zu ihm, dem Tadschiken, sagen: Wir waren doch nie befreundet. Meine Augen, meine Haut erinnern sich anders, erwidert Khudojnazarov. Nur das Gedächtnis ist eine reine Angelegenheit des Kopfes. Die Erinnerung will immer den ganzen Menschen. Genau wie die Wahrheit. Und so klingt es nur im ersten Augenblick seltsam, wenn Khudojnazarov meint, Berlin erinnere ihn an seine Kindheit. An Duschanbe in Mittelasien. Zwischen Mitte und Prenzlauer Berg habe er das Gefühl, auf einem "magischen Punkt" zu stehen. Auf lauter Geschichte.

Berlin ist ein guter Ort für jemanden, der nirgendwo wirklich hingehört. Nicht mehr nach Tadschikistan, nicht mehr nach Moskau. Ein 100-prozentiger Tadschike hätte "Luna Papa" nicht machen können. Denn der Film ist ein Spiel aus Nähe und Distanz. Aus Aufklärung und Magie.

In seiner Heimat, seinem halbverlorenen Land, ist so viel Kraft und so wenig Bewusstsein. Etwas Magisches musste dort geschehen!, sagt Khudojnazarov mit einem Ausdruck des höchsten Realismus, verstehen Sie, sowas wie dieses Dach, das losflog.

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