zum Hauptinhalt
Natürliche britische Küstenverteidigungsbefestigung. Die Klippen von Dover.

© Phil Noble/Reuters

"Die Mauer" von John Lanchester: In der Wasserwelt

Der Roman zum Brexit, zur Stunde. Oder doch mehr Game of Thrones? John Lanchesters Roman „Die Mauer“ zeigt die totale Düsternis.

Mauern funktionieren eben doch. Früher wussten das die Römer, die Chinesen und die SED, heute wissen es Victor Orbán und Donald Trump. Und morgen die Briten. Dann nämlich, wenn in nicht allzu ferner Zukunft die Polkappen geschmolzen sind. Wenn weite Landmassen überflutet wurden und die Meere voller Bootsflüchtlinge sind.

Dann werden sich die stolzen Insulaner einfach auf ihre gute alte „Splendid isolation“ besinnen, ihre glückliche Abgeschiedenheit vom Rest der Welt. Und ringsum an ihren Küsten eine 10 000 Kilometer lange „Nationale Küstenverteidigungsbefestigung“ hochziehen – so zumindest in John Lanchesters Near-Future-Dystopie „Die Mauer“. Bemannt ist das Bauwerk mit 200 000 wackeren Wachleuten, die sich in 12-StundenSchichten abwechseln. Um alles „an Ort und Stelle zur Strecke“ zu bringen, was sich bei Nacht und Nebel mit Enterhaken oder Saugnäpfen voller Verzweiflung und Todesmut die Senkrechte hochzieht. Schottland ist natürlich mit dabei. Die armen Iren wohl eher nicht.

„Es ist kalt auf der Mauer“, mit dieser Beobachtung beginnt der neue Roman des 56-jährigen britischen Schriftstellers, sein bislang fünfter. In Zeiten von Brexit, Shutdown, Klimawandel und dem Aufstieg nationalistischer Identitätspolitiker soll sein Zukunftsengland, das endgültig einer Wagenburg-Mentalität erlegen ist, so brisant und aktuell sein, dass der deutsche Verlag kurzfristig den Erscheinungstermin vorgezogen hat.

Lanchester ist bekennender Game-of-Thrones-Aficionado

Doch wenn nicht zwischendurch doch mal von Drohnen die Rede wäre, von iPhone-ähnlichen „Kommunikatoren“ oder halbautomatischen Waffen, könnte man glatt denken, man befände sich im hohen Norden von Westeros und nicht an irgendeinem Küstenabschnitt der heute so idyllischen Grafschaft Devon.

Denn die grimmige Kälte, bei der Lanchester, ein bekennender Game-of-Thrones-Aficionado, Englands junge Generation ihre zweijährige Dienstzeit ableisten lässt, kommt einem doch allzu bekannt vor. Und noch mehr die jähe Brutalität, wenn Langeweile und Gleichförmigkeit doch einmal von einem Angriff der „Anderen“ (natürlich keine Eiszombies, sondern eher die „Wildlinge“ dieser Zukunft) unterbrochen werden. Einmal muss der Hauptmann der Kompanie den Feind mit einer Machete buchstäblich in Stücke hauen, um einen Durchbruch zu verhindern. Letzterer wäre schon deshalb fatal, weil für jeden erfolgreichen Eindringling ein Verteidiger in die Verbannung geschickt wird – ein Motiv, das den letzten der drei Romanteile, „Das Meer“ betitelt, einleitet.

Der britische Schriftsteller John Lanchester, 59.
Der britische Schriftsteller John Lanchester, 59.

© Marijan Murat

Natürlich gibt es auch Unterschiede: Die Mauer, die in Lanchesters Roman die Zivilisation von Barbarei und Chaos trennt, ist aus Beton und nicht aus Eis. Auch wäre England nicht mehr England, gäbe es nicht auch auf den Wällen pünktlich eine Teepause. Zudem müssen bei dieser „Nachtwache“, Pardon, den englischen „Verteidigern“, die jungen Frauen mit ran. Auch wenn diese zum Leidwesen des Ich-Erzählers nur schwer als solche zu erkennen sind, so eingemummelt sind hier alle gegen die „ewig gleiche Betonwasserhimmelwindkälte“.

Spannend zu lesen, aber auch etwas holzschnittartig

Joseph Kavanagh heißt Lanchesters Protagonist, ein Neuling, der nach seinem ersten Tag auf der Mauer von allen nur noch „Yeti“ gerufen wird und der mit seiner Kameradin Hifa bald eine zaghafte Romanze beginnt. Mit Lanchesters Personal beginnen indes die Probleme dieses Romans, der zwar bis zum Schluss spannend zu lesen, unterm Strich aber eher die „Enttäuschung“ statt der „Roman der Stunde“ ist. Denn allzu erkennbar ist der mit einem heimlichen Aufstiegswillen ausgestattete Ich-Erzähler in all seiner Durchschnittlichkeit als Identifikationsfigur angelegt. Und der Rest der Figuren bleibt flach und holzschnittartig – erstaunlich, wenn man sich an John Lanchesters großartiges, 2012 veröffentlichtes Gesellschaftsporträt vom London der Finanzkrise erinnert, "Kapital".

Etwas Profilschärfe gewinnt in „Die Mauer“ einzig der schon erwähnte Hauptmann, der zuvor selbst ein „Anderer“ war. Als besonders knallharter Verteidiger hat er sich jedoch längst Ruhm und Privilegien erworben. Dagegen haben jene armen Teufel, denen in der Romangegenwart die Überwindung der Mauer gelingt, nur noch die Wahl zwischen Euthanasie, Verbannung oder einem Leben als „Dienstling“, sprich Sklave für die Bio-Engländer. Unmöglich wäre ein Leben im Untergrund, dank Mikrochips im Körper und staatlichem Tracking. Glauben zumindest alle.

Die Urlaubswochen der Einheit mit Fahrten nach Hause geben dem Autor Gelegenheit, die Gesellschaft seines Romans näher zu beschreiben. Und hier wird es doch interessant. Zwei Gegensätze dominieren: Der zwischen der breiten, halbwegs komfortabel lebenden Mittelschicht und einer „Elite“, die sogar noch fliegen darf (wohin auch immer, der Rest der Welt bleibt im Roman ein weißer Fleck). Und vor allem der zwischen jung und alt: Denn während die Jugend gemeinsam pragmatisch-realistisch nach vorne schaut und die Welt nach dem großen „Wandel“ nimmt, wie sie ist, plagen die ältere Generation diffuse Schuldgefühle.

Am Ende erinnert „Die Mauer“ mehr an Kevin Costners „Waterworld“ als an Kafkas „Schloss“

„Die Alten“, philosophiert der Ich-Erzähler, „haben das Gefühl, die Welt unwiederbringlich vor die Wand gefahren und es dann zugelassen zu haben, dass wir in sie hineingeboren wurden. Und was soll ich dir sagen? Genauso ist es. Das ist genau das, was sie getan haben. Sie wissen es, wir wissen es. Alle wissen es.“ So bleibt ihnen nur, wie Kavanaghs Eltern, die Flucht in Schweigen und historisch gewordene Dokus, etwa vom Surfen an nicht mehr vorhandenen Sandstränden. Sofern ihnen nicht, wie Hifas extravaganter Mutter, das Kunststück gelingt, sich auch in dieser Mangel- und Selbstversorgergesellschaft noch einzureden, dass sich alles nur um sie dreht.

Leider verpasst John Lanchester aber die Gelegenheit, über diese Ansätze hinaus das Bild der eremitischen Gesellschaft, ihre Werte, Kultur und Konflikte, konsequent auszuerzählen. Gern hätte man etwa über das privilegierte Leben der „Fortpflanzler“ mehr erfahren, also jener, die sich trotz aller Weltkaputtheit unverdrossen an der gesellschaftlichen Reproduktion versuchen. Stattdessen folgt Lanchesters Roman im letzten Drittel dem aus zahllosen Dystopien bekannten Hin und Her zwischen Solidarität und Survival of the Fittest.

Am Ende erinnert „Die Mauer“ sogar mehr an Kevin Costners „Waterworld“ als an die existenzialistische Parabelhaftigkeit von Kafkas „Schloss“, an die sich mancher Rezensent seltsamerweise erinnert fühlte, oder naheliegender an „Die Tatarenwüste“ von Dino Buzzatis. Man muss sogar sagen: Was das konsequente ästhetische Durchspielen von Identitäts- und Loyalitätskonflikten angeht sowie von der Umkehrbarkeit aller „Wir/die-Anderen“-Unterscheidungen, zumal angesichts globaler Katastrophen, hätte John Lanchester von George R. R. Martin lernen können. Denn, nein, auf lange Sicht funktionieren Mauern eigentlich nie.

John Lanchester: Die Mauer. Aus dem Englischen von Dorothee Merkel. Roman. Stuttgart: Klett-Cotta 2019, 348 S. 24 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false