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Am Strand der Dinge. Die Nerven in der Toskana.

© Ralv Milberg/Glitterhouse

Die Nerven und ihr Album "Fake": Finde niemals zu dir selbst

Eine laute, wütende, treffsichere Platte gegen den großen Schmu: die Stuttgarter Rockband Die Nerven veröffentlicht mit "Fake" das Album der Stunde.

Lügen als Wahrheit zu verkaufen, ist nicht bloß das Geschäft von Politikern. Auch Künstler lieben den Schwindel. Neben der wirklichen Wahrheit existieren neuerdings auch andere, alternative Wahrheiten. Der Terminus, der dafür im Umlauf ist, lautet Fake. Als Synonym dazu schlägt der Duden Fälschung, Kopie, Nachahmung, Plagiat und Schmu vor.

„Fake“, so hat die Stuttgarter Rockband Die Nerven ihr viertes, gerade erschienenes Album genannt. In der Ära des großen Schmu diesen Titel für eine sehr laute, sehr wütende, sehr treffsichere Platte auszuwählen, ist schon mal clever. Noch cleverer ist, dass die Band im Video zum Titelsong nicht selber auftritt, sondern sich von einem kleinen Mädchen doubeln lässt, das in der Entertainmenthölle einer Karaokebar zu Vollplayback performt. Ein grandioser Fake.

Her mit euren Lügen

„Was ich heute sage / Morgen schon vergessen / Nichts, was in Erinnerung bleibt“, murmelt Sänger und Gitarrist Max Rieger zu sphärisch wabernden E-Gitarren-Akkorden. Der Refrain lautet: „Her mit euren Lügen, her mit eurem Leid“. Wenn er einsetzt, beginnt ein Keyboard zu pluckern, das an die akustische Folter eines tropfenden Wasserhahns erinnert. Schönheit ist bei den Nerven nicht ohne Widerhaken zu haben. Ihre ersten drei Alben „Fluidum“, „Fun“ und „Out“ trugen dem Stuttgarter Trio den Ruf der „am miesesten gelaunten Rockband, die dieses Land zu bieten hat“ („Die Zeit“) ein.

Zufrieden klingen Max Rieger, Bassist und Sänger Julian Knoth sowie Schlagzeuger Kevin Kuhn, allesamt um die 30 Jahre alt, noch immer nicht. Doch die Punkrock-Aggression ihrer Anfänge lassen sie mit ihrer meisterlichen neuen Platte, die unter der Regie des Produzenten Ralv Milberg in einem Tonstudio in der Toskana entstand, hinter sich. Der Furor erkaltet, was bleibt, ist ein großes, grundsätzlicheres Nichteinverstandensein mit der Welt und der Gegenwart.

Immer nur dagegen

„Finde niemals zu dir selbst“, heißt es in „Niemals“, einem unbeschwert losrockenden Uptempostück mit herrlichen Tremolo-Gitarren. Ihre Vorliebe für Parolen haben Die Nerven von Ton Steine Scherben und Tocotronic übernommen, nur wissen sie, dass man Parolen nicht glauben darf, nicht mal denen einer Band. Niemals. Das Misstrauen gilt einer Gesellschaft von Selbstoptimierern und Mitmachern, in der die einst subversive Aufforderung, sich selbst zu finden, den Anpassungsdruck noch weiter erhöht.

Die Desillusionierungsballade „Dunst“ führt in die Sphären der Spielhallen und einarmigen Banditen: „Das Spiel ist aus / Doch die Automaten surren weiter ihre seltsame Melodie“. Das stärkste Stück des Albums heißt „Frei“ und ist ein einziger Aufschrei, eine Explosion aus Noisegitarren und Schlagzeuggepolter. „Lass alles los / Gib alles frei“, brüllt Rieger, um nach dem Unbehagen in der Resignation zu enden: „Immer nur dagegen / Immer nur dagegen / Aber gegen was?“ Eine Lösung haben die Nerven nicht, aber sie stellen die richtigen Fragen.

Lass alles los

Die Nerven stehen in der Tradition von deutschen Postpunkgruppen wie Die Regierung oder Fehlfarben, der extrem trockene Hall ihrer Aufnahmen erinnert an die britische Schwermutformation Joy Division. Doch auf derlei Vergleiche wollen sie sich nicht einlassen und betonen, eine „Band fürs Jetzt“ zu sein. Zu diesem Jetzt gehören weitere wütende und laute Bands wie Karies aus Stuttgart, Messer aus Münster oder Isolation Berlin, die bereits unter dem Label einer „neuen deutschen Kälte“ (Bayerischer Rundfunk) subsumiert werden. „Fake“ ist der bislang großartigste Rock-’n’-Roll-Schwindel des Jahres 2018.

„Fake“ von Die Nerven ist bei Glitterhouse Records erschienen.

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