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Kultur: Die Seelen von Seoul

Hightech und Lesekultur? In Korea, dem Gastland der Buchmesse, ist das kein Widerspruch

Südlich der koreanischen Hauptstadt Seoul eröffnet demnächst ein Hotel, in dem es keine Fernseher gibt. Mobiltelefone sind verboten, man muss sie an der Rezeption abgeben. Dafür bringt einem der Zimmerservice auf Wunsch jedes beliebige Buch. Ein Hotel ohne Funktelefon und Kabelfernsehen muss dem Koreaner allerdings in etwa so attraktiv erscheinen wie dem Münchner ein Oktoberfest ohne Bier. Südkorea ist ein Hightech-Land. Gerade läuft ein Modellversuch für fernsehfähige Handys. Die Technik soll in Kürze auch in Deutschland verbreitet werden. Plakatwände sind in Seoul schon weitgehend von riesigen Flachbildschirmen abgelöst worden. Eine Musterwohnung neben dem Informations- und Technologieministerium zeigt das künftige Wohnen mit Putzrobotern und Sprachsteuerung. Auf Zuruf verrät einem der Garderobenspiegel den Wetterbericht, und der Kleiderschrank gibt eine Stilberatung.

Den Lausbubenstreich eines Hotels als Ruhezone vor der allgegenwärtigen Hightech hat sich der Verleger Yi Ki-Un ausgedacht. Gerade hat er einen Sumpf trockengelegt. Nach jahrzehntelanger Planung entstand in einem ländlichen Gebiet vor den Toren der Zehn-MillionenMetropole die Paju-Buchstadt, bei deren Anblick deutsche Verleger nur vor Neid erblassen können. Bis Ende 2006 sollen hier 30 000 Menschen in Papierfabriken, Verlagen, Übersetzungsbüros, Lektoraten und Druckereien arbeiten. In einem gigantischen Logistikzentrum soll fast der gesamte koreanische Buchmarkt zentral organisiert werden. Rund 200 Familien bietet die Bücherstadt Unterkunft, auch an Kinos und Restaurants wurde gedacht. Zwischen grünen Hügeln haben internationale Architekten 150 Gebäude errichtet, die an die Baukunst Skandinaviens erinnern: helle Hölzer, klare Formen.

Dem koreanischen Buchhandel (Jahresumsatz: 5,1 Milliarden Euro) scheint es gut zu gehen. Und das, obwohl Elektronik einen weit höheren Stellenwert genießt als im alten Europa. Jeder Dritte betreibt eine private, bunt animierte Webseite, auf die man Freunde einladen und in Gruppen verwalten kann. Computerspiele sind beliebt; die besten Spieler üben sie als Beruf aus. Diese Pro-Gamer sind so prominent wie anderswo Fußballspieler. Während in Deutschland Onlinespiele allenfalls im Zusammenhang mit Gewaltdebatten beachtet werden, überträgt das koreanische Fernsehen die Meisterschaften im Ego-Shooting oder virtuelle Autorennen im Fernsehen. Und trotz dieser Technikbegeisterung sind Literatur und Bildung in Korea äußerst hoch geschätzte Werte.

Das erklärt sich zum Teil aus der Geschichte. Denn Korea ist – weit stärker als Deutschland – eine Schriftnation. Die Koreaner verfügen über ein eigenes Alphabet, die Hangul-Schrift. Während das Chinesische für jedes Wort ein anderes Schriftzeichen verwendet und somit viele Tausend Zeichen kennt, ist Hangul eine Silbenschrift. Der Jahrestag ihrer offiziellen Einführung ist in Korea ein gesetzlicher Feiertag. Am 9. Oktober 1446 übergab König Sejong die neue Schrift dem Volk – gegen den Widerstand der Oberschicht, die am komplizierten Chinesisch festhalten wollte, weil sie um ihr Bildungsmonopol fürchtete.

Hangul ist eine einfache Schrift mit klaren, geometrisch wirkenden Zeichen. Die 28 Buchstaben bezeichnen wie bei uns Konsonanten und Vokale, die sich wie lateinische Buchstaben zu Silben und Wörtern zusammensetzen lassen: eine leicht erlernbare Reformschrift für das ganze Volk. Die gemeinsame Schrift ist für das jahrhundertelang in drei Königreiche geteilte Korea von nationaler Bedeutung. Während der japanischen Besetzung ab 1910 war sie verboten, zum Zeitpunkt der Befreiung im Jahr 1945 waren deshalb 78 Prozent der Koreaner Analphabeten. Hangul diente der Wiedergewinnung der kulturellen Identität.

Heute steht die Bildung in Korea an oberster Stelle: Den größten Teil seines Umsatzes macht der koreanische Buchmarkt mit Schullektüre. Die Familien investieren mehr als die Hälfte ihres Einkommens in die Bildung ihrer Kinder. Neben der normalen Schule besuchen koreanische Schüler nachmittags zusätzlich eine private Nachhilfeschule. In der Leseleistung liegen sie laut der Pisa-Studie weltweit denn auch auf den vorderen Rängen – sechzehn Plätze vor den deutschen.

Korea hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in kaum vorstellbarem Tempo nach westlichem Vorbild modernisiert. Aus dem Westen übernahm man nicht nur Errungenschaften wie Starbucks, McDonald’s und MTV, auch die klassische europäische Kultur wurde begierig aufgesaugt. Deutsch war bis vor einigen Jahren in Korea die zweitpopulärste Fremdsprache nach dem Englischen – mittlerweile wurde sie vom Japanischen abgelöst. Fast jeder gebildete Koreaner hat nicht nur die deutschen Klassiker gelesen, er kennt auch die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts von Böll bis Walser.

Dies betrifft allerdings nur den Süden. Die nördliche Hälfte Koreas befindet sich, abgeschirmt durch eine absurde kryptokommunistische Diktatur, wirtschaftlich und kulturell in einem vormodernen Dämmerzustand. Das Thema Teilung und Wiedervereinigung, neben dem schwierigen Verhältnis zu Japan das zweite koreanische Trauma, ist allgegenwärtig. Im zaghaften Tauwetter des kalten Stellungskriegs besuchte eine Schriftstellerdelegation die nördliche Hauptstadt Pjöngjang, um Nordkorea zur Teilnahme an der Frankfurter Buchmesse zu bewegen. Geleitet wurde sie von Hwang Chi Woo. Der Lyriker koordiniert auch den koreanischen Buchmesseauftritt. Wie es in Pjöngjang war? „Bitte verstehen sie, dass ich Ihnen meine echten Eindrücke verheimlichen muss. Wir haben noch immer die Hoffnung, dass nordkoreanische Schriftsteller nach Frankfurt fahren.“ Andere werden deutlicher. An der Grenze musste die Delegation jedes im Süden gedruckte Buch zurücklassen, der „Dialog“ wurde von Funktionären überwacht.

Der Norden ist beim Schwerpunkt Korea in Frankfurt nicht vertreten. Die Wiedervereinigung hat Deutschland den Koreanern voraus. Aber es gibt einiges, was wir von Korea lernen können – nicht nur bei der Einrichtung neuer Hotels.

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