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Marie (Ariana Rivoire) findet ihre Stimme in Jean-Pierre Améris "Die Sprache des Herzens."

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"Die Sprache des Herzens" von Jean-Pierre Améris: Ein zarter Weltaufgang

Zwei Frauen und ein unermüdlicher Kampf für ein selbstbestimmtes Leben: Jean-Pierre Améris gelingt mit "Die Sprache des Herzens" ein wunderbar berührender Film.

Ein junges Mädchen greift in den Himmel, immer wieder, mit beiden Händen. Dorthin, wo die Sonne ist. Sie scheint zu blinzeln vor dem Übermaß des Lichts. Aber in Maries Welt herrscht ewiges Dunkel. Ihre blinden Augen sehen die Sonne nicht, haben sie noch nie gesehen, doch scheinen sie jetzt irgendeine letzte Helle zu empfangen. Marie und ihr Vater fahren durch den Frühling. Marie hört die tausend Stimmen des Frühlings nicht, in ihrer Welt herrscht neben dem ewigen Dunkel auch ewiges Schweigen.

Jeder ist gefangen in seinem Ich. Niemand entkommt der eigenen Gesellschaft. Doch gewöhnliche Menschen haben so viele Fenster zur Welt, dass sie diesen Umstand gewöhnlich vergessen, man nennt das auch Leben. Leben geht ins Offene. Marie Heurtin hat kein Fenster zur Welt. Sie ist 14 Jahre alt. Ein Tier. Ein scheues, wildes Tier. Der Einzige, der diesem Kobold Halt gibt, ist ihr Vater. Wenn sie sich an ihn lehnt, wird sie ruhig. Ein höheres Glück gibt es nicht in Maries Welt: der letzte Widerschein einer unendlichen Helle in ihren Augen. Marie Heurtin weiß nicht, dass es die letzte Fahrt mit ihrem Vater werden soll. Sie führt zu einem Kloster, hinter dessen Mauern sie wohlverschlossen leben wird. Leben? Existieren. Vegetieren.

Jean-Pierre Améris gelingt ein berührender Film

Der französische Regisseur Jean-Pierre Améris hat eine authentische Geschichte aus dem 19. Jahrhundert verfilmt, die Geschichte eines Sprachwunders. Wundergeschichten sind besonders gefährdet, sie stehen unter höherer Beweislast, aber Améris und seinen Darstellerinnen gelingt ein berührender, wunderbarer Film.

Man ahnt, wie es um die Familie der Marie Heurtin stand: Das kleine wilde Tier würde nur zu bald äußere Anzeichen einer Frau zeigen, spätestens jetzt muss sie, die meist unter dem Tisch oder in Zimmerecken hockt, aus dem Haus. Der Arzt rät zur geschlossenen Anstalt, aber das bringt Maries Vater nicht übers Herz; er hat von diesem Kloster gehört, in dem auch taubstumme Mädchen leben. Marie spürt sofort, dass sie an einem unbekannten Ort ist. Und dass die Hand, die sie hier berührt, nicht die ihres Vaters ist. Sie macht, was jedes Tier tun würde: Sie wehrt sich, läuft weg. Es ist ein Lauffallen, ein Falllaufen, sie rettet sich in die Krone eines Apfelbaums. Das Klosterleben der Marie Heurtin beginnt nicht gut. Und ginge es nach der Oberin, würde es gar nicht erst anfangen. Ein taubstummes Mädchen sei etwas ganz anderes als ein blindes taubstummes Mädchen, erklärt sie. Der Vater möge das Kind wieder mitnehmen.

„Heute bin ich einer Seele begegnet, einer kleinen, zerbrechlichen Seele. Sie hat auf mich gewartet, gefangen in Finsternis und Stille“, notiert Schwester Marguerite in ihr Tagebuch. Sie war dem Mädchen nachgestiegen, hat es berührt. Auf ihre Bitte hin darf Marie bleiben, wenn auch nur ein paar Tage. In den Blicken der Oberin steht unbeirrbar der Verweis.

"Die Sprache des Herzens" ist der Film zweier Frauen

„Die Sprache des Herzens“ ist der Film zweier Frauen: Isabelle Carré spielt Marguerite, Ariana Rivoire Marie. Ein unermüdlicher Zweikampf, Marie verteidigt ihr naturhaftes Selbst gegen jeden Übergriff. Noch nie hat ihr jemand die Haare gekämmt, noch nie musste sie Schuhe tragen. Immer wieder ist die Gefährdung dieses Films zu spüren. Er muss Maries Sträuben zeigen und Marguerites Unerbittlichkeit und dabei doch so sehr viel mehr sein als ein Handgemenge ad infinitum. Es ist das Ineinander des Derben und Zarten, das diesen Film immer wieder trägt.

Jeder Weltaufgang ist zart. Das Wunder geschieht: Marie Heurtin geht eine Welt auf. Sie lernt Zeichensprache. Die allzu Heutigen würden wohl sagen, Marie lernt zu „kommunizieren“, aber das ist nur ein Nebeneffekt. Die Membranen ihrer Seele beginnen zu schwingen.

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