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Der Schriftsteller und Theaterintendant Steffen Mensching

© Friederike Lüdde/Wallstein

Begegnung mit Steffen Mensching: Die Spur der Idealisten

Legendärer Grafologe trifft erfundenen Kommunisten: Steffen Mensching und sein Epochenroman „Schermanns Augen“.

Zwei Löffel zieren den Einband von Steffen Menschings großem Roman „Schermanns Augen“: einer aus Silber mit Rosenmotiv am Stiel, der andere aus schlichtem Holz. Ihre Mulden sehen wie Augen aus. Sie symbolisieren die beiden zentralen Lebensphasen des polnisch-jüdischen Schriftdeuters Rafael Schermann. Der schillernde Grafopsychologe, Verfasser des Standardwerks „Die Schrift lügt nicht!“, wurde 1874 in Krakau geboren. Der Silberlöffel steht für seinen rauschhaften gesellschaftlichen Aufstieg in Wien ab 1910, der hölzerne für seine Haft im Gulag. Den selbst geschnitzten Löffel zu verlieren, hätte im sibirischen Straflager Safranowka, ITL 47, kurz Artek II, den Hungertod bedeutet.

Steffen Mensching zeigt seinen Protagonisten in beiden Lebensphasen. Nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939 war Schermann nach Lemberg geflohen, das jedoch im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes an die Sowjetunion fiel. Er wurde verhaftet und nach Sibirien deportiert. Die Spur des genialen Beobachters und Telepathen, der in Wien die Kulturprominenz von Oskar Kokoschka bis Adolf Loos beriet, verliert sich 1943 in einem Arbeitslager in Kasachstan.

Zwanzig Jahre ist es her, dass Mensching in einem New Yorker Antiquariat ein Riesenkonvolut Bücher aus dem Nachlass deutsch-jüdischer Emigranten kaufte, worüber er 2003 den Roman „Jacobs Leiter“ schrieb. In jenem Stapel entdeckte er auch das Buch „Experimente mit Rafael Schermann“ des Prager Neuropathologen Oskar Fischer. Dieser Zufallsfund hatte eine literarische Langzeitfolge, die nun auf 800 Seiten zu bestaunen ist. Mit „Schermanns Augen“ legt Steffen Mensching den gewichtigsten deutschen Roman dieses Jahres vor, ein wahres Kraftwerk der Geschichte und der Geschichten.

Ich bin der einzige lebende Rafael-Schermann-Experte

Seit der Spielzeit 2008/09 leitet er das Theater in Schillers thüringischem Lieblingsort Rudolstadt. Das unter der Schirmmütze aufblitzende Augenpaar verrät Brecht’sche Freude an der Dialektik, wenn er mit Berliner Timbre erzählt: „Also, ich bin wahrscheinlich der einzig lebende Rafael-Schermann-Experte“, sagt er lachend. „Ich glaube, er war ein großartiger Grafologe, ein wirklich kenntnisreicher Mann, und er hatte offenbar ein enormes Gedächtnis. Er war zweitens ein sehr geschickter Psychologe, der aus den Reaktionen derjenigen, deren Schrift er da untersuchte, Schlussfolgerungen ziehen konnte, wo er auf einer richtigen Spur war oder wo er in die Irre lief. Und er hatte drittens immer sehr, sehr gute Informanten. Als er einen Namen hatte, gab er in Wien nur noch Privataudienzen, und da bot sich ihm natürlich immer die Möglichkeit, sich zu informieren. Also, er war ein gewiefter Hund und dennoch eine enorme Begabung.“

Der Autor, Schauspieler, Kabarettist und Regisseur Steffen Mensching wurde 1958 im damaligen Ost-Berlin geboren und wuchs in Lichtenberg auf. An seinem Opus magnum hat er zwölf Jahre gearbeitet und dafür unzählige Archive durchkämmt. Sein besonderes Interesse gilt den deutschen Emigranten im Moskau der 1930er Jahre, die durch den Stalinismus in eine tödliche Falle gerieten.

Mensching hat seinen in die Epochen ausgreifenden Lagerroman in absatzlosen Textblöcken angelegt, die jeweils mehrere Seiten umfassen. Diese formale Strenge wird durch die ausgesprochen wendige und plastische Sprache kontrastiert, mit der er das ausgedehnte Figurenarsenal zum Leben erweckt. „Ich habe, weil ich eine Menge anderer Dinge noch zu tun hatte hier am Haus, immer in sehr komprimierten Formen geschrieben“, erklärt Mensching in seinem Rudolstädter Intendantenbüro.

Die Spionin wurde vom sowjetischen Geheimdienst liquidiert

„Die Blöcke sind nicht zufällig entstanden, sondern ich habe versucht, immer irgendwie überschaubare Etappen mir zu schaffen. Also diese drei, vier Seiten, die waren irgendwie abgeschlossen, wie ein Filmbild. Da konnte ich zumachen und dann wie mit Steinen weitergehen, mit denen man einen Fluss durchquert.“ Der Autor lässt Schermann im Herbst 1940 mit einem Häftlingstransport im Lager Artek II eintreffen.

Da der Neuankömmling angeblich kein Russisch spricht, wird der junge Berliner Schriftsetzer Otto Haferkorn von der Lagerleitung dazu bestimmt, bei Schermanns Verhören zu dolmetschen. Der gläubige Kommunist arbeitete vor seiner Verhaftung bei der deutschen „Zentralzeitung“ in Moskau, wo er die legendäre Schriftstellerin und Spanienkämpferin Maria Osten kennenlernte und fortan glühend verehrte. 1942 wurde sie als angebliche Spionin vom sowjetischen Geheimdienst NKWD liquidiert. Mit der Figurenkoppelung Schermann – Haferkorn lässt Mensching geschickt eine reale Person auf eine erfundene treffen.

„Schermanns Augen waren dunkelbraun, verschattet, wenn er einem ins Herz sah, angsteinflößend, bedrohlich“, gibt die ukrainische Lagerköchin Anastasia zu Protokoll. Jeder Seite merkt man an, wie intensiv der Autor an seinem Stoff gearbeitet hat. Zum einen erschafft er die sibirische Gegenwartsebene voller Konflikte, Gefahren und Entbehrungen. Die Angst vor der Einzelhaft im „Isolator“ eint gewöhnliche Verbrecher und die „58er“ – benannt nach Paragraph 58 wegen angeblicher Spionage –, die politischen Häftlinge wie Haferkorn. Und doch blitzt immer wieder gehörige Situationskomik auf.

Man blickt in die Wohnung von Adolf Loos und leidet mit Karl Kraus

Sie speist sich häufig aus Übersetzungsproblemen oder aus der Konkurrenz der völlig unterschiedlichen Kommandanten. So hofiert der bibliophile Hauptmann Kozinzew seinen „Gast“ Schermann, während der Bandit und Brigadechef Uspechin praktisch Analphabet ist. Die Verehrung des Schreibens in handschriftlicher wie gedruckter Form durchzieht leitmotivisch den Roman: „Otto strich zärtlich über das Zeitungspapier. Er liebte das spartanische Satzbild der Prawda. Ein klassischer Sechsspalter, ohne Fotografien, keine Anzeigen, keine dominanten Schlagzeilen, eine Textwüste mit wenig Speck, aber luftigen Absätzen und englischen Linien.“

Im Kontrast dazu erzählt Rafael Schermann ausschweifend und faktengesättigt von seinen glanzvollen Wiener Jahren. Dort hatte er sich durch den Zuspruch des „Fackel“-Herausgebers Karl Kraus einen sagenhaften Ruf als „Fernseher“ erworben. Mit Schermann blickt der Leser in die überraschend unordentliche Privatwohnung des Architekten Adolf Loos oder leidet mit Karl Kraus, der mit Schermanns Rat seinem Liebesglück bei der Baronin Sidonie von Nádherný aufhelfen wollte: „Hinter der anämisch-bescheidenen Fassade lauerte eine verwöhnte Katze, zu sanftem Sadismus neigend, wenn es galt, ihre Eigenliebe zu befriedigen. In diesem konkreten Fall reimte sich Maus auf Kraus.“

Seine Figuren sind ihm über die Jahre ans Herz gewachsen

Vor allem aber wird „Schermanns Augen“ bei aller Tragik des 20. Jahrhunderts von jenem Funken Restutopie erleuchtet, der „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss prägt. „Das hängt im Wesentlichen damit zusammen, dass mich als Schreiber ein zynischer Blick auf meine Figuren nicht interessiert“, sagt Mensching. „Mir war es wichtig, auch den Verbrechern, dem Wachpersonal, den Kommandanten eine Motivlage zu schaffen, die ihr Handeln begründet.“ Und er reflektiert am Beispiel des Otto Haferkorn seine eigene „gläubige Epoche“ in einem Staat namens DDR.

Dem Autor sind seine Figuren über die Jahre ans Herz gewachsen, und so erlaubt er sich ein relativ offenes und damit nicht ganz hoffnungsloses Ende für seinen geschmeidigen Romankoloss. Dazu trägt nicht zuletzt die liebestolle Köchin bei, die Haferkorn nachstellt. Dass die Geschichte mit den Idealisten, von denen Steffen Mensching so sprachmächtig wie mitreißend erzählt, ungleich brutaler verfuhr, steht auf einem anderen Blatt.

Steffen Mensching: Schermanns Augen. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 820 Seiten, 28 €.

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