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Kultur: Die Türkei in der Krise: In den Tod - aus Sympathie

Die Konfrontation zwischen hungerstreikenden Häftlingen und dem Staat in der Türkei weitet sich zu einer gesamtgesellschaftlichen Krise aus. Sechs Monate nach Beginn der Protestaktionen linksradikaler Gefangener fielen dem Konflikt in den vergangenen Tagen erstmals auch mehrere Außenstehende zum Opfer.

Die Konfrontation zwischen hungerstreikenden Häftlingen und dem Staat in der Türkei weitet sich zu einer gesamtgesellschaftlichen Krise aus. Sechs Monate nach Beginn der Protestaktionen linksradikaler Gefangener fielen dem Konflikt in den vergangenen Tagen erstmals auch mehrere Außenstehende zum Opfer. Die türkischen Medien lassen sich von dem gerichtlichen Verbot der Berichterstattung über die Auseinandersetzung nicht mehr beirren und berichten ausführlich über die Schicksale der Hungerstreikenden und ihrer Angehörigen. Mit der Anrufung des Europarats durch den türkischen Menschenrechtsverein hat der Konflikt jetzt auch eine internationale Dimension erhalten.

180 Tage dauern die Hungerstreikaktionen der Häftlinge bereits an, die überwiegend der linksextremistischen Terrorgruppe "Revolutionäre Volksbefreiungsfront" angehören. Die Gefangenen protestieren gegen eine Gefängnisreform, mit der von der Gemeinschaftsunterbringung in großen Schlafsälen auf Ein- bis Drei-Mann-Zellen umgestellt wurde. Die Hungerstreikenden befürchten, in kleineren Zellen wehrlos der Willkür brutaler Wärter ausgeliefert zu sein. Das türkische Justizministerium macht dagegen geltend, die Linksextremisten wollten nur nicht die Kontrolle über die Haftanstalten aufgeben, die sie in den Massenschlafsälen ausüben konnten.

Nahrung und Medizin verweigert

Ihren ersten blutigen Höhepunkt fand die Konfrontation im vergangenen Dezember bei der gewaltsamen Erstürmung der alten Gefängnisse durch die staatlichen Sicherheitskräfte. 30 Häftlinge und zwei Soldaten fanden bei der Schlacht um die Haftanstalten den Tod; rund tausend Gefangene wurden damals in die neuen Haftanstalten verlegt, wo viele den Hungerstreik fortsetzten. Seit Ende März starben nun weitere elf Gefangene an den Folgen ihres Hungerstreiks; bis zuletzt verweigerten sie Nahrung und medizinische Hilfe. Auf der anderen Seite wurden seit Jahresbeginn ein halbes Dutzend Polizisten bei Anschlägen und Angriffen der Revolutionären Volksbefreiungsfront auf Streifenwagen und Polizeibusse getötet; in zehn Jahren tötete die Volksbefreiungsfront nach Zählung der Behörden rund hundert Polizisten und Soldaten.

Erstmals seit Beginn der Hungerstreikaktionen erfasst die tödliche Konfrontation jetzt auch Außenstehende. Am Wochenende starb in Istanbul die 19-jährige Studentin Canan Kulaksiz, die sich dem Hungerstreik aus Sympathie mit ihrem inhaftierten Onkel - einem Mitglied der Volksbefreiungsfront - angeschlossen hatte.

Auf der Straße erschossen

Canan Kulaksiz war bereits die zweite Angehörige eines Häftlings, die beim Sympathie-Streik ihr Leben ließ; auch ihre ebenfalls hungerstreikende ältere Schwester schwebt schon in Lebensgefahr. Ein völlig unbeteiligter Mann starb inzwischen beim jüngsten Anschlag der Volksbefreiungsfront auf die Polizei in Istanbul: Der 51-jährige Lehrer Ahmet Öztürk wurde von den Linksextremisten auf offener Straße erschossen, weil sie sein Auto als Fluchtwagen haben wollten.

Angesichts der tödlichen Entwicklungen ist die Auseinandersetzung nicht mehr unter Ausschluss der Öffentlichkeit auszutragen, wie dies das Staatssicherheitsgericht Istanbul im Dezember noch mit einem Maulkorb für die Medien zu regeln versucht hatte. Ausführlich berichten Zeitungen und Fernsehen über die Schicksale aller Beteiligten - bis hin zu der Mutter, die ihren sterbenden Sohn beim letzten Besuch am Krankenbett nicht mehr berühren durfte. Mit jedem Todesfall innerhalb und außerhalb der Gefängnisse dürfte sich der Konflikt in den nächsten Tagen weiter zuspitzen.

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