zum Hauptinhalt
Stadt des Schicksals, Stadt der Spekulationen. Neapel ist der Hauptschauplatz von Ferrantes Romanreihe „Meine geniale Freundin“.

© imago & people

Die Wahrheit hinter Elena Ferrante?: Meine geniale Spürnase

Ein italienischer Investigativ-Journalist will enthüllt haben, wer die Romane der "Neapolitanischen Saga" schreibt. Elena Ferrante soll die Übersetzerin Anita Raja sein.

Er deckte Korruptionsfälle bei den Vereinten Nationen auf, die Verwicklungen der Investmentbank JPMorgan Chase in dubiose Geschäfte und die Existenz geheimer Netzwerke, die mit Flüchtlingsströmen Geld machten. Jetzt hat sich der italienische Enthüllungsjournalist Claudio Gatti einem literarischen Geheimnis zugewandt: der wahren Identität der Bestseller-Autorin Elena Ferrante.

Am Sonntag veröffentlichten die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, das italienische Wirtschaftsblatt „Il Sole 24 Ore“, die „New York Review of Books“ und die französische Website „Mediapart“ gleichzeitig eine Story von Gatti und seinem Team. Der Investigativ-Reporter will herausgefunden haben, welche Autorin hinter dem Pseudonym Elena Ferrante steckt, das an die große italienische Schriftstellerin Elsa Morante erinnert. Es soll sich um die 1953 in Rom geborene Übersetzerin Anita Raja handeln, Ehefrau des Schriftstellers Domenico Starnone, der auch schon selbst als mögliche Identität von Elena Ferrante im Verdacht gestanden hatte.

Zeitgeschichte aus weiblicher Sicht

Elena Ferrante ist ein weltweites literarisches Phänomen, ihre vierbändige Neapel-Saga „Meine geniale Freundin“ machte sie zum Star des Literaturbetriebs. Dabei war sie bislang ein Phantom. Im Original von 2011 bis 2014 erschienen, feierten Ferrantes Romane um zwei Freundinnen in halb Europa und in den USA Erfolge und verkauften sich millionenfach. Vor einigen Wochen erschien der erste Band in deutscher Übersetzung im Suhrkamp Verlag. Seit Wochen führt er die „Spiegel“- Bestsellerliste an, bislang wurden eine Viertelmillion Exemplare verkauft. Die weiteren Bände sollen im nächsten Jahr folgen.

Die vier Romane überspannen sechs Jahrzehnte italienischer Nachkriegsgeschichte, erzählt aus der Sicht von der Schriftstellerin Elena Greco, die sich an die Geschichte ihrer Freundschaft mit der Schustertochter Lila erinnert: wie sie gemeinsam aufwuchsen in einem Arbeitervorort von Neapel, über Hochzeit, Mutterschaft, Scheidung bis hin zum mysteriösem Verschwinden der lebenslangen Freundin. In den Bänden stellt Ferrante Zeitgeschichte aus weiblicher Sicht dar. Damit hat sie sich damit eine weltweite Fangemeinde aufgebaut. Eine Adaption als Fernsehserie ist bereits geplant.

Steckt die Camorra dahinter?

Je größer der Erfolgt, desto eifriger suchten Journalisten und Literaturbetriebsler nach der wahren Person, die sich hinter dem Pseudonym Elena Ferrante verbirgt. Die Autorin schreibt seit ihrer ersten Veröffentlichung 1992 unter falschem Namen. In Interviews, die sie nur in schriftlicher Form gibt, begründete sie das mit ihrem Wunsch nach Bewahrung der Privatsphäre, sowie der Auffassung, dass – frei nach Michel Foucault – Bücher keine Autoren mehr bräuchten, wenn sie einmal geschrieben sind. Trotzdem wurde weiter nach der Urheberin der Neapolitanischen Saga gefahndet, zuletzt ist die Literaturwissenschaftlerin Marcella Marmo genannt worden. Und es wurde gerätselt: Muss Ferrante ihre Identität geheim halten wegen der Camorra? Steckt hinter dem Pseudonym womöglich ein Mann?

Insbesondere dieser Verdacht wäre eine Ironie der Geschichte. So stammen die berühmtesten Werke, die unter Pseudonym geschrieben wurden, doch meist von Frauen, die unter Männernamen publizieren mussten. Eines der bekanntesten Beispiele sind die britischen Brontë- Schwestern, die bis heute zu den meistgelesenen Autorinnen des 19. Jahrhunderts zählen. Charlotte, Emily und Anne publizierten ihre Werke zeitlebens unter männlichen Pseudonymen, damit sie von der viktorianischen Gesellschaft ernstgenommen würden. Nur ihr Bruder Branwell konnte unter seinem wahren Namen veröffentlichen.

Überweisungen des Verlags

Heute sind es meist berühmte Autoren, die unter Pseudonym publizieren, um dem Erfolgsdruck auszuweichen oder die Qualität ihrer Texte vom Personenkult zu entkoppeln. Stephen King schrieb mehrere Romane unter dem Namen Richard Bachmann, und „Harry Potter“-Erfolgsautorin J.K. Rowling publizierte einen Krimi als Robert Galbraith. Lange blieben diese Pseudonyme nicht geheim, während Elena Ferrante es schaffte, über Jahrzehnte hinweg unerkannt zu bleiben. Wer also ist Elena Ferrante? Gatti bezieht sich in seiner Enthüllungsgeschichte hauptsächlich auf Zahlen.

Anita Raja ist laut Gatti eng verbunden mit dem Verlag Edizioni e/o, der Ferrantes Bücher in Italien vertreibt, sie übersetzte lange Zeit deutsche Literatur für das Haus. Heute ist sie offiziell als freie Übersetzerin für den Verlag tätig. Gatti will herausgefunden haben, dass sie die Hauptnutznießerin der gestiegenen Einkünfte des Verlags durch den Erfolg von Ferrantes Büchern sei. Laut einer internen Quelle seien die Überweisungen des Verlags an Raja 2015 im Vergleich zum Vorjahr sprunghaft gestiegen, zeitgleich mit dem gesteigerten Gewinn des Verlags. Raja und ihr Mann erwarben Immobilien in Rom und in der Toskana mit Millionenwert. Mit den niedrigen Einkünften einer Übersetzerin wären sie eher nicht zu bezahlen.

Freundschaft mit Christa Wolf

Neben den ökonomischen Fakten nennt Gatti persönliche und literarische Indizien, die für Anita Raja als wahre Identität von Ferrante sprechen sollen. Dabei führt eine Spur nach Deutschland. Rajas Mutter ist in Worms geboren, als Tochter einer jüdischen, aus Polen stammenden Familie. Sie floh vor dem Holocaust nach Italien und heiratete einen Neapolitaner. Tochter Anita hat eine Leidenschaft für deutsche Literatur, als Übersetzerin spezialisierte sie sich auf ostdeutsche Schriftstellerinnen und bearbeitete Texte von Christa Wolf, zu der sie eine enge Freundschaft aufbaute. Wolf gilt als deutlicher thematischer Einfluss auf Ferrantes „Meine geniale Freundin“ und Ferrantes weiteres Werk.

Elena, so Gatti, war der Name von Anita Rajas Tante, während „Nino“, ein Protagonist in „Meine geniale Freundin“, der Spitzname ihres Ehemannes Domenico Starnone sei. Die Heldin der Romanreihe streift durch Bibliotheken und besucht die Eliteuniversität Scuola Normale in Pisa. Raja war jahrelang Leiterin der Bibliotheca Europea in Rom, und ihre Tochter hatte sich genau an dieser Universität eingeschrieben. Das also sind die Indizien, auf denen Gatti seine Geschichte aufbaut. Die einzige Frage, die offen bleibt, ist die nach dem Sinn der Enthüllung. Ferrantes italienischer Verlag ist laut der „F.A.S.“ verärgert über den Eingriff in das Privatleben von Ferrante. Ferrante kündigte im „Spiegel“ an, dass sie nicht weiter schreiben wolle, sollte ihre Identität aufgedeckt werden. Es wäre ein großer Verlust für die Literatur.

Zur Startseite