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Kultur: Die Wand zwischen uns

Seelen im Ausnahmezustand: „Gabrielle“ – Patrice Chéreau übersetzt Joseph Conrad ins Jetzt

Der Mann steigt aus dem Zug und treibt mit der Menge zum Ausgang. Im Roman des Seemanns Joseph Conrad ist es ein Zug der Linie Inner Circle, der am Londoner Westend-Bahnhof hält. Im Film des Franzosen Patrice Chéreau ist es eine Station des „besseren“ Paris um 1912. Das ist schon fast alles, was Chéreau an Conrads Roman „Die Rückkehr“ (bezwingende Neuübersetzung bei dtv) geändert hat. Nur diese Bahnhofs-Szene spielt draußen, alles Folgende ereignet sich in Innenräumen. In den Belle-Époque-Zimmerfluchten des Paares Gabrielle und Jean und in den Innenräumen, die man auch Seelen nennt und über deren Existenz Gabrielle und insbesondere Jean bisher kaum unterrichtet waren.

Hier gibt es die unheimlichsten Tsunamis – kein Wunder, dass sich der Ozeandichter Conrad für ein durch und durch urbanes Binnenlandspaar interessieren konnte. Kein Wunder auch, dass Patrice Chéreau von diesem Buch nicht mehr loskam; und dass er immer wieder Isabelle Huppert vor sich sah, als er es las. Chéreau hat sich als Theater-, Opern- und Kinoregisseur längst auf die Binnen-Tsunamis spezialisiert, egal ob er den „Ring des Nibelungen“ inszeniert oder einen Todesfall in der Provinz („Wer mich liebt, nimmt den Zug“). Im Extremfall braucht er dazu nicht mehr als zwei Körper – wie in „Intimacy“, womit er 2001 auf der Berlinale den Goldenen Bären gewann.

In Gabrielle nimmt er zwei Seelen. Und folgt fast Wort für Wort dem Roman. Das Erstaunliche dabei: Nie hat man das Gefühl, ein abgefilmtes Buch zu sehen. „Gabrielle“ ist Hochpräzisionskino in jedem Augenblick. Jeder Kamerawinkel, jeder Schnitt scheint die sprachlich-psychologische Meisterschaft Conrads autonom nachzuvollziehen. Die Änderungen also sind minimal – auch jene, die am Ende eine um alles ist. Chéreau musste nur eine Nuance verschieben, um die Problematik einer Ehe des 19. Jahrhunderts ins zeitlos Heutige zu übersetzen. Denn Conrads „Rückkehr“ war der Prosa-Bruder der Ehe-Dramen Ibsens und Strindbergs.

Jean kommt früher nach Hause als sonst. Er will nicht mehr in den Club. Er geht die Treppe hoch und denkt daran, wie zufrieden er ist. Er ist aus lauter Konvention gemacht, und genauso hat er geheiratet. Vor fünf Jahren bei Conrad, vor zehn bei Chéreau. Die Heutigen rechnen merkwürdigerweise mit längeren Abkühlungszeiträumen. Er denkt daran, wie sehr er es mag, dass seine Frau – Gabrielle heißt sie – im Bett neben ihm schläft, dass ihr Grab einmal neben dem seinen . . . Mitten in diesem Satz sieht er den Brief. Einen Brief von ihr auf der Frisierkommode. Wieso schreibt sie ihm, wo sie doch ohnehin gleich zusammen essen werden? Der Brief ärgert ihn schon jetzt. Dann lässt er ihn fallen. Es ist ein Abschiedsbrief.

„Gabrielle“, marternd und klaustrophobisch wie ein Bergman-Film und zugleich weltergreifend wie die große Oper, ist tatsächlich die Fortsetzung von „Intimacy" – mit Isabelle Huppert und Pascal Greggory als abgründigem Paar, dessen gemeinsame Lebensbundvoraussetzung hieß: Wir heiraten, aber keine Intimität bitte! Im 19. Jahrhundert war eine solche Voraussetzung noch plausibel, schließlich ist die Ehe eine sittliche Einrichtung und keine der Leidenschaft. Das 19. Jahrhundert auch hätte sich über unsere Scheidungsraten kaum gewundert, und die Naivität unserer Liebesheiraten hätte es sehr amüsiert. Gabrielle und Jean sagen „Sie“ zueinander, zum Zeichen ihrer gegenseitigen Wertschätzung; Chéreau behält auch das bei. Pascal Greggory hat ein feines Gesicht, die Arroganz steht ihm gut, jede Miene ist tausendmal erprobt auf ihre Würdenträgertauglichkeit. Doch auf einmal fällt das alles aus seinem Gesicht – und was darin erscheint, deutet auf Nie-Gefühltes, Nie-Gedachtes. Dass man ihn so verraten kann!

Und dann ist Gabrielle wieder da. Zurück von dem Chefredakteur mit dem Quallengesicht, den sie liebt und dessen Gesellschaftsblatt ihr Mann finanziert. Die böseste Pointe: Wäre Jean nicht ausgerechnet an diesem Tag früher gekommen, er hätte bis an sein Lebensende nichts gemerkt. Isabelle Huppert als Gabrielle ist ein zerbrechliches Gebilde aus Eis, aber man ahnt sekündlich, was unter der Oberfläche treibt. Keine Intimität bitte? Jetzt, da sie wieder da ist, fällt vor der schonungslosen Kamera diese rücksichtsvoll-rücksichtslose Maxime.

Es beginnen die Ausnahmezustände der Seele. Das eigentliche Drama ist nur deren Ungleichzeitigkeit. Denn Gabrielle hat schon hinter sich, was ihr Mann noch vor sich hat. Sie würde gern wie Blut in ihn hineinfließen, gesteht sie ihrem Mann. Aber nicht in ihren Mann möchte sie fließen, sondern in die Chefredakteursqualle. Jean hat solche Ungeheuerlichkeiten noch nie gedacht. Da sind wir Jetztzeitzuschauer schon einen Schritt weiter – ungefähr da, wo Gabrielle ist, als sie zurückkommt. Das Hineinfließen in Chefredakteursquallen ist keine solide Lebensgrundlage, darum kehrt Gabrielle zurück. Kann man mit einem Menschen leben, den man liebt? Auch Jean muss nun diese Frage beantworten.

Kant, Kulturbrauerei; OmU im Broadway, Cinema Paris, Hackesche Höfe

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