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SCHREIB Waren: Die Windsammlerin

Steffen Richter über das luftige Dasein auf Inseln

Inseln sind Zwittergebilde: Flecken von Land, die erst durch das Wasser ringsum sie selbst werden. Eine Wissenschaft von den Inseln, wenn es sie gäbe, könnte nach vielerlei Kriterien klassifizieren: Es gibt reale Transitinseln wie die Azoren zwischen Europa und Amerika und fiktive Begrenzungsinseln wie das antike Ultima Thule am Nordrand der Welt; auch gibt es Ferieninseln wie Mallorca oder Bali und Gefängnisinseln wie die Île d’If mit dem Château des Grafen von Monte Christo; zudem wären da noch Meerinseln, Seeinseln und fliegende Inseln wie Laputa in Swifts „Gulliver“.

Ganz allgemein ist die Dichterdichte auf Inseln ungewöhnlich groß – man denke an Sizilien mit Pirandello und Sciascia oder an Irland mit Joyce und Beckett. Einige Inseln aber sind dem alteuropäischen Bewusstsein offenbar durch die Lappen gegangen, weil sie hinterm Eisernen Vorhang lagen: in Dalmatien vor der kroatischen Küste. Sie heißen Lopud und Lokrum oder Pag und Brac. Glaubt man Marica Bodrozic, die nun auch diesen Inseln zu ihrer Literatur verholfen hat, werden sie bevölkert von Traumhütern und Bildinspektoren. Auf ihnen wehen die typischen Mittelmeerwinde Tramontana, Bora, Schirokko, Mistral und Libeccio. Doch neben Landschaft und Mythen findet man hier auch politische Zeitgeschichte. Auf den Brijuni-Inseln trafen sich einst Ulbricht und Tito, die Kahle Insel Goli Otok war Titos berüchtigtes Straflager. Marica Bodrozic, die aus Kroatien stammt und seit 1983 in Deutschland lebt, hat den insularen Schwebezustand zwischen Poesie und Prosa in den Erzählungen „Der Windsammler“ (Suhrkamp) beschrieben. Es geht um Seelenorte, den Untergang von Systemen oder auch das Vergehen der Jahreszeiten am 22.11. (20 Uhr 30) im Buchhändlerkeller (Carmerstraße1, Charlottenburg).

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