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Dokumentation: Kleine Möwe, flieg nach Helgoland

„Spuren ins Nichts“: Von der Kunst, über den Dirigenten Carlos Kleiber einen Film zu drehen.

Zwei Filme – beide frisch auf DVD erschienen –, die sich unfreiwillig die Hände reichen. In der Mitte von Eric Schulz’ hoch musikalischem, feinnervigem Carlos-Kleiber-Porträt „Spuren ins Nichts“ gibt es eine so spektakuläre wie intime Sequenz: Kleiber im Orchestergraben des Bayreuther Festspielhauses, es läuft der dritte Akt „Tristan“, Isoldes Liebestod. Irgendein guter, findiger Geist muss in der Höhe des Souffleurkastens, dem Dirigentenpult frontal gegenüber, eine Kamera angebracht haben. Und die saugt in magisch verschwimmenden Bildern, als wär’s ein Daumenkino von Gerhard Richter, alles auf: die Verzückung in Kleibers Gesicht, die Hingabe an den Augenblick („Für Isolde ist der Tod schön!“, ruft er in einer Probe), seine magnetische Gestik. Kleiber habe durch sein Talent den Beruf ad absurdum geführt, wird sein Weggefährte und kluger Freund Otto Schenk später sagen. Mit Taktschlagen hat solches Dirigieren nichts zu tun.

Auch Georg Wübbolts Dokumentation „Ich bin der Welt abhandengekommen“ prunkt mit Ausschnitten aus dem Bayreuther „Tristan“ (die Oper soll, zum rechtlichen Ärger der Festspiele, in voller Länge existieren) und legt, um die auratische Latte noch ein wenig höher zu schrauben, einige leicht verfremdete Faksimiles Kleiber’scher Briefe darüber (auch das am Rande der Legalität). Das Kleiber-Material – auch das zeigen solche Koinzidenzen – ist seit seinem Tod 2004 nicht reicher geworden. Und die Erben, die nach wie vor jede Kooperation verweigern, nicht einsichtiger. Am Bedürfnis, den Mythos, das Enigma Carlos Kleiber zu entschlüsseln, ihm jenseits aller Weihrauchschwaden auf die Spur zu kommen, ändert das allerdings wenig.

Tragisch: Es passt wohl zur Kleiber-Rezeption, dass es das schlechtere der beiden Porträts, das von Georg Wübbolt, zur absoluten Primetime (Sonnabend um 20.15 Uhr) ins Programm von 3 sat geschafft hat, während das bessere, filmisch fantasievollere, atmosphärischere, symbiotischere lediglich auf Servus TV gelaufen ist, einem kleinen Salzburger Internetkanal. Von Pontius zu Pilatus sei er gerannt, erzählt Eric Schulz, und habe sich nur Absagen eingehandelt. Ein Film über einen Dirigenten, der zeitlebens keine Interviews gegeben hat und ab einem gewissen Zeitpunkt nichts als sein (mediales) Verschwinden betrieb? Ein Film ohne jede familiäre Schützenhilfe und, was mindestens so schwer wiegt, ohne repräsentative musikalische Zeugnisse? Wie soll das gehen. Was existiert, Aufnahmen mit dem Bayerischen Staatsorchester, den Wiener Philharmonikern, ist gesperrt. Die Rechte liegen bei Unitel, mit Leo Kirch und Jan Mojto verband den Maestro eine Freundschaft. Außenseiter unter sich.

Schulz und Wübbolt gehen mit dieser misslichen Lage zunächst recht ähnlich um – indem sie andere sprechen lassen, Kollegen, Künstlerfreunde, Musiker. Der eine hat Placido Domingo zu bieten, der von Kleibers „om-om-ombelievable aesthetics“ schwärmt, der andere Riccardo Muti bei sich im Garten. Während Wübbolt freilich den Ehrgeiz entwickelt, tausend Stimmen zu sammeln und sich mit seiner Kamera quer durch die deutschsprachige Orchesterlandschaft fräst, was „Lost to The World“ (so der englische Titel) im Schnitt extrem hektisch macht, lässt Eric Schulz seinen Kronzeugen Zeit zum Nachdenken oder hört mit ihnen Musik. Die Gesichter dabei von Otto Schenk, dem Dirigentenkollegen Michael Gielen oder dem Arzt Otto Staindl sind ergreifend. Oder wenn Brigitte Fassbaender, Kleibers legendärer Münchner Octavian, aus einem zerfledderten Buch vorliest, das er ihr einst geschenkt hat, Notate eines chinesischen Weisen. Sätze wie „Der Tod schreit noch viel lauter als das Leben“ hat Kleiber darin unterstrichen.

Ein absolutes Rarum stellt die Begegnung mit Kleibers Schwester Veronika dar. Plötzlich fühlt man sich dem Entschwundenen auf fast indiskrete Weise nah: Die alte Dame spricht ein bisschen so, wie er gesprochen hat, zaudernd, singend, mit rollendem „R“. Und wenn sie an die Fotowand im Zimmer ihres Mailänder Altersheims tritt, wo Vater Erich seinen Platz hat, der Schatten, und Mutter Ruth und Carlos als Kind, das so gerne „Kleine Möwe flieg nach Helgoland“ gesungen hat, dann lebt eine starke Wehmut auf. Über das Vergangene als Verlorenes. Über eine Welt, der im Angesicht des Genies nicht zu helfen war und ist. Ihr „armer Bruder“, sagt Veronika Kleiber am Ende, sei lange vor seinem Tod bereits „auf der anderen Seite“ gewesen.

„Carlos Kleiber – Traces to Nowhere“ (Arthaus); „Carlos Kleiber – Lost to The World“ (C Major)

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