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David van Reybrouck am Mittwochabend in Berlin

© dpa

Dramatischer Appell: David van Reybrouck eröffnet Internationales Literaturfestival

Mut und Verantwortung: Die Rede des belgischen Schriftstellers David van Reybrouck im Haus der Berliner Festspiele

Am Ende seiner Rede im Haus der Berliner Festspiele bittet der belgische Schriftsteller und Historiker David van Reybrouck darum, noch nicht gleich aufzuspringen und sich zu verteilen, sondern zu schweigen, wie bei einem Begräbnis, und nachzudenken „über die Arten, die wir in der vergangenen halben Stunde verloren haben.“

Van Reybrouck bleibt also lange stehen, bevor er sich fürs Zuhören bedanktes, und es herrscht Stille im Auditorium. Allerdings fragt man sich, wie laut dieses Schweigen hätte sein können, wäre es voller gewesen bei der Eröffnung dieses 22. Internationalen Literaturfestivals Berlin.

Im Vergleich zum vergangenen Jahr, als die Eröffnung in der Betonhalle des Weddinger Silent Green stattfand, und erst recht zu den Prä-Corona-Jahren, ist der Besuch dieser Literaturfestivaleröffnungsveranstaltung sehr übersichtlich geraten. Das Haus der Berliner Festspiele ist vielleicht gerade einmal zur Hälfte gefüllt, wenn überhaupt. Ob das eine Folge der Pandemie ist? Oder gar symptomatisch für das, worüber David van Reybrouck an diesem Abend redet: die Klimakrise, die Klimakatastrophe, auf die die Menschheit, so sie so wenig unternimmt wie bisher, unweigerlich zusteuert. Nichts hören, nichts sehen, nichts fühlen wollen?

„Kongo“ ist eine oral history par excellence

Van Reybrouck ist vor gut einem Jahrzehnt berühmt geworden mit seinem Buch über Kongo, in dem er die 150-jährige Geschichte dieses Landes in Ostafrika erzählt, von der kolonialen Gewaltherrschaft unter Leopold II. über die 32jährige Mobutu-Diktatur bis hinein in die Gegenwart. Ungewöhnlich dabei: van Reybrouck war nicht nur viele Male vor Ort, sondern hat Hunderte von Menschen interviewt und lässt so auch Kindersoldaten, Rebellenführer, Kriegsverbrecher oder einfach Leute von der Straße zu Wort kommen. „Kongo“ ist eine oral history par excellence.

Ähnlich ist er für sein neues, dieser Tage auch auf Deutsch erscheinendes Buch über Indonesien und „die Entstehung der modernen Welt“ vorgegangen, „Revolusi“. Auch in diesem Buch steht die Kolonialgeschichte im Mittelpunkt, doch nicht weniger die Entkolonialisierung: Indoneseien war die erste Kolonie, die nach dem Zweiten Weltkrieg und einem vierjährigen Kriegsgeschehen auf dem Archipel 1949 ihre Unabhängigkeit von den Niederlanden erklärte.

Es verblüfft zunächst, dass David van Reybrouck im Haus der Berliner Festspiele sogleich mit der Klimakrise beginnt, mit der „sechsten großen Aussterbewelle“, in der wir uns im Moment befinden, mit dem hohen Kohlendioxid-Ausstoß in der Atmosphäre und Füchsen, die in versteppten Landschaften keine Nahrung mehr finden und ihm aus der Hand fressen. „Die Hungrigen kamen zu den Schuldigen, und die Schuldigen hatten nichts zu sagen. Bis jetzt vielleicht“, schließt der belgischer Schriftsteller diese Passage.

 Wir müssen mehr tun als Kampagnen gegen lokale Symbole der Vergangenheit zu veranstalten“

David van Reybrouck

Danach erläutert er, dass Kolonialgeschichte schon immer und jetzt erst recht eine globale Angelegenheit ist und wir, die Menschheit, im Begriff seien, die Zukunft zu kolonialisieren und den nachfolgenden Generationen die Folgen und Aufklärung der jahrzehntelangen Umweltverbrechen aufzubürden. Mit dem „Wir“ meint er die reichen Nationen, den Westen, den globalen Norden. Der Postkolonialismus greift ihm dabei zu kurz: „Wir werden mehr tun müssen, als Kampagnen gegen lokale Symbole der Vergangenheit zu veranstalten und die globalen Strukturen der Gegenwart zu bekämpfen. Wenn wir wirklich Fortschritte erzielen wollen, müssen wir die globale Solidarität neu erfinden.“

Das ist natürlich alles naheliegend und schön und richtig gesprochen, und auch der „Mut“ leuchtet ein, den David van Reybrouck einfordert, um nicht von der Notwendigkeit sprechen zu müssen, die sowieso aus jedem Satz seiner Rede erklingt. Aber eine Rede? Es ist etwas anderes, was van Reybrouck hier vorträgt, nicht zuletzt weil er wie ein Mantra das „Wir“ als Erzählperspektive gewählt hat: ein Appell, ein dramatischer Appell, der doch hoffentlich von mehr Leuten gehört werden möge als bloß von denen an diesem Eröffnunsgabend. Und wer vielleicht ein wenig enttäuscht war wegen van Reybroucks Move: Die Zeit schöner Reden, schöner Worte ist vorbei.

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