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Die Berliner Schriftstellerin Fatma Aydemir. Sie wurde 1986 in Karlsruhe geboren.

©  Sibylle Fendt

Fatma Aydemirs Roman "Dschinns": Im Transit gefangen

Prototypen und Einzelschicksale: Mit „Dschinns“ hat die Berliner Schriftstellerin Fatma Aydemir einen bewegend-irritierenden Familienroman geschrieben.

Es dauert, bis die titelgebenden Dschinns in dem neuen Roman der Berliner Schriftstellerin Fatma Aydemir ihren Auftritt bekommen. Peri, kurz für Perihan, eins der vier Kinder der Familie Yilmaz, wird eines Tages von ihrem kleinen Bruder Ümit gefragt, was denn eigentlich ein Dschinn sei. Eine eindeutige Antwort vermag Peri nicht zu geben. Sie erklärt Ümit, Dschinns könnten so was wie Geister sein, Zwischenwesen. Oder etwas, das nicht greifbar, nicht erklärbar, nicht sichtbar ist, „das Vage, das Ungewisse, das Dunkle.“ Oder auch: „Dschinns sind alles, was wir komisch finden, anders, unnatürlich.“

Später überlegt Peri, das aufgeklärteste, intellektuellste, vielleicht emanzipierteste Yilmaz-Kind, dass vermutlich alle Menschen ihre Dschinns haben. Ganz sicher aber ihre sich in zwei unterschiedlichen Kulturen und Milieus sowie gleich drei unterschiedlichen Sprachen bewegenden Eltern und Geschwister: der Vater Hüseyin, der zu Beginn des Romans einem Herzinfarkt erliegt; die Mutter Emine, die zusammen mit ihrem Mann ein sorgsam gehütetes Geheimnis mit sich herumträgt, das die Tragik ihres Lebens potenziert; schließlich neben ihr selbst, Perihan, auch Sevda, die ältere Yilmaz-Tochter, und die Brüder Hakan und Ümit.

Fatma Aydemir erzählt ihren Roman aus sechs Perspektiven, als eine Reihe von Porträts, wenn man so will: Selbstporträts. Auf den kurzen Beginn mit dem Vater folgen die Geschwister mit großen Kapiteln, aus auktorialer Perspektive, und es endet mit der Mutter, quasi als generationelle Rahmung. Sie alle treffen sich zur Beerdigung in Istanbul oder sind, weil sie es kurzfristig nicht schaffen, auf dem Weg dahin.

[Fatma Aydemir: Dschinns. Roman. Hanser Verlag, München 2022. 368 Seiten, 24 €.]

„Dschinns“ ist die Geschichte einer sogenannten Gastarbeiterfamilie, die in Deutschland als türkische gilt, aber einen kurdischen Hintergrund hat – ein immerwährendes Dazwischen, das nicht erst mit Hüseyins Ankunft in Deutschland 1971 begann, sondern schon in der Türkei mit einem nicht unwichtigen Migrationsschritt von einem Dorf in ein etwas größeres Gemeinwesen. Hier muss Sevda als ältestes Kind lange bei den Großeltern bleiben, bevor der Vater sie als 14-Jährige 1981 nachholt.

Das erste Kapitel ist eine Wucht, so wie Aydemir hier kunstvoll verknappt Hüseyin mithilfe der viel Nähe schaffenden zweiten Person Singular sein Leben rekapitulieren und kurz darauf sterben lässt. In einer gerade fertiggestellten schicken, von seinen Ersparnissen finanzierten Istanbuler Wohnung will er sich auf sein Leben als Rentner vorbereiten. Ein nahezu repräsentatives Schicksal, ein Leben in Isolation, Einsamkeit gar, dessen Fixpunkt die Lohnarbeit, das Geldverdienen war. „Aber was solltest du tun, Hüseyin? Du konntest doch nicht einfach zurück in dein Dorf. Also bliebst du und tatest das, was du tun musstest, damit dein Herkommen wenigstens einen Sinn ergab.“

Irritierend ist der Zeitpunkt der Erzählebene

Das zunächst nicht weiter Auffällige, später aber Irritierende an Aydemirs Roman ist der Zeitpunkt auf der Erzähl- und Gegenwartsebene: das Jahr 1999. Der nach dem Vater porträtierte Ümit entdeckt seine Homosexualität, die ihn zu einem seltsamen, in einem Gewerbegebiet residierenden psychologischen Berater führt. Vermittelt hat das ausgerechnet sein Fußballtrainer, ohne dass klar wird, wer diesen Psychologen bezahlt. Nach Ümit kommt Sevda, die Älteste, die sich in der Heimat dagegen wehrt, verheiratet zu werden, nach ihrer Ankunft in Deutschland und als Analphabetin einen schweren Stand hat, es aber zu einer leidlich erfolgreichen Restaurantbesitzerin in Niedersachsen bringt. Dann Perihan und am Ende Hakan, der versucht, mit dem Auto nach Istanbul zu gelangen, aber von einer bayrischen Polizeistreife willkürlich mehrere Stunden aufgehalten wird.

Aydemir formt aus den Bewusstseinsströmen und Erinnerungen der vier Kinder und der Mutter gekonnt die mitunter tragische Geschichte der Yilmaz. „Dschinns“ ist passagenweise ein klassischer Familienroman. Dazu kommt die Migrationsproblematik: Deutschland will mit den Yilmaz' wenig zu tun haben; der Rassismus ist für sie Alltag. Aydemir spiegelt da zum Beispiel die rassistischen, todbringenden Anschläge in Hoyerswerda, Rostock oder Solingen in Sevdas versehentlich brennendem Haus, aus dem gerade noch ihre beiden Kinder gerettet werden können.

Obwohl alle Charaktere überzeugend gezeichnet sind, sie voller Ambivalenz und Widersprüchen stecken – entschlossen, selbstbewusst einerseits, mit Schwierigkeiten, sich von traditionellen Strukturen loszulösen andererseits –, hat man doch den Eindruck, das jedes Kind für eine bestimmte Lebensform Modell stehen muss. Vier Folgen einer Netflixserie: der junge Schwule, die sich gegen alle Widerstände durchsetzende Tochter, die theoretisch versierte Studentin, der Junge der zweiten Einwanderergeneration, der egal wie Geld verdienen und sich von niemand was vorschreiben lassen will. Und von dem seine Schwester sagt, er sei „besessen von der endlosen Show seines Lebens, von seiner ununterbrochenen Schauspielerei.“

Die Verhältnisse in der Türkei bleiben im Hintergrund

Als 2017 der Debütroman der 1986 in Karlsruhe geborenen Autorin erschien, „Ellbogen“, wirkte dieser thematisch leicht überladen. Allein vom Leben einer jungen Deutschen mit türkischem Hintergrund und dem ihrer Freundinnen, Freunde und Familie in Berlin zu erzählen, reichte Aydemir nicht. Sie fügte darin zudem die aktuelle politische Situation der Türkei mit ein, den Terroranschlag auf dem Istanbuler Flughafen, die kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen, den Krieg gegen die Kurden und den Militärputschversuch 2016.

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Dieses Mal ist es umgekehrt: Die politischen Verhältnisse in der Heimat der Yilmaz' schimmern eher im Hintergrund. Dagegen haben sich die diskursiv-vielfältigen Lebensstile in den Vordergrund geschoben, die der zwanziger Jahre des neuen Jahrtausends wohlgemerkt, die viel spürbarer, sichtbarer geworden sind als ehedem. Das lässt sich an Ümit, Sevda und Peri festmachen, ihren Identitätssuchen, an der Homophobie, dem Sexismus und dem Patriarchalismus, die ihnen entgegenschlagen.

Noch mehr aber an dem Rätsel, das sich als roter Faden durch den Roman zieht: Kurz angedeutet bei Hüseyin, scheint es bei Sevda erneut auf, um noch konkreter zu werden bei Perihan, die einen Mann kennenlernt, der von ihr nichts wissen will. Die Auflösung gibt es bei Emine. Es geht dabei um jenes Familiengeheimnis, um ein Mädchen, das sich als Mann fühlt und mutmaßlich einer Geschlechtsangleichung unterzogen hat.

Diese Geschichte erscheint herbeikonstruiert, da bekommt „Dschinns“ zuletzt, als Emine ebenfalls in Du-Form ihr Leben Revue passieren lässt, einen Drall ins Melodramatisch-Kitschige, zudem erhöht ein Erdbeben alles übertrieben symbolisch. Obwohl Aydemir hier abermals Geschick darin beweist, die Vorurteile und Vorbehalte von Emine und Hüseyin gegenüber trans Menschen auch mit deren Ablehnung von Sevdas eher konventioneller Befreiung aus einer furchtbaren Ehe zu parallelisieren.

Im Einzelnen sind die Eltern mit ihren bewegenden Schicksalen glaubhafte Persönlichkeiten, so wie Ümit, Peri, Sevda und Hakan. In ihrer Gesamtheit wirken sie wie Prototypen, deren Dschinns allzu demonstrativ und kalkuliert sind.

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