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Großstadtamazonen. Fred Stein floh vor den Nazis erst 1934 ins Pariser und dann ins New Yorker Exil. Dort entstand 1943 dieses Foto in Little Italy.

© Fred Stein Estate

Fred Stein im Jüdischen Museum: Du hast nur den einen Moment

Das Jüdische Museum zeigt die erste Retrospektive des deutschen Fotografen Fred Stein.

Für die dreißiger und vierziger Jahre, die letzte Hochblüte der Schwarz-Weiß-Fotografie, ist das Bild von Paris untrennbar mit dem Namen von Henri Cartier-Bresson verbunden, das von New York mit dem von Berenice Abbott. Natürlich gab es weitere Fotografen von Rang, Robert Doisneau hier, Andreas Feininger dort, oder auch die Nachtschwärmer Brassai und Weegee. Von Fred Stein (1909–1967) ist nie die Rede.

Das muss, das wird sich mit der Überblicksausstellung ändern, die das Jüdische Museum Berlin diesem vergessenen Fotografen widmet, der ersten Retrospektive dieses rechtzeitig aus Nazi-Deutschland geflohenen Dresdner Rabbinersohnes überhaupt. Zu gehaltvoll sind die Aufnahmen, die der studierte Jurist und autodidaktische Fotograf an seinem ersten Fluchtort Paris ab 1934 und dem zweiten Exil New York ab 1941 anfertigte. Nicht nur in technischer Hinsicht ist Stein, der seinen Geburtsnamen Alfred zu Fred verkürzte, vollkommen auf der Höhe, er beweist auch von Anfang an den Blick für das lohnende Motiv. „Du hast nur diesen einen Moment“, wird er in den Wandtexten der Ausstellung zitiert, und natürlich ist da Cartier-Bressons berühmter "moment décisif" ganz nahe.

Er porträtierte Egon Erwin Kisch, Willy Brandt und Marlene Dietrich

Stein ist jedoch kein „rasender Reporter“ – er hat unter seinen rund 1200 Porträts auch das von Egon Erwin Kisch angefertigt –, sondern ein eher verhaltener Beobachter, der nicht den dramatischen, sondern den poetischen Augenblick sucht. Regen im Gegenlicht, ein Schläfer auf der Wiese; in New York dann Kinder neben einem Polizeiauto, Damen auf der Parkbank, die Hochbahn als grafisches Muster gegen die aufragenden Wolkenkratzer.

In der Ausstellung sind die Aufnahmen aus beiden Weltstädten – 32 aus Paris, 41 aus New York – gemischt präsentiert, im begleitenden Katalogbuch geografisch und entsprechend Steins Flüchtlingsdasein chronologisch getrennt. Für die Mischung spricht, dass sich Steins Bildsprache nicht verändert. Er sucht nicht die Modernität der Neuen Welt, so wenig wie er zuvor die Rückstände des alten Paris verklärt. Er nimmt einfach Anteil am Leben, getreu seiner Maxime, „die Kamera unterscheidet nicht zwischen Berühmtheiten und einem Niemand“. Das ist auf die Porträts gemünzt, gilt aber für die Stadtansichten gleichermaßen.

Als Porträtist ist Stein künftig zu den ganz Großen seiner Zeit zu zählen, und das über die dreißiger und vierziger Jahre hinaus, denn Stein besuchte 1958 erstmals nach der Emigration wieder Deutschland und nahm im Laufe der ihm verbleibenden Jahre auch Willy Brandt, Heinrich Lübke, Günter Grass oder Otto Dix im unvermeidlichen Malerkittel auf. Die Auswahl im Museum, mit 60 Aufnahmen umfangreicher als der begrenzte Querschnitt im Buch, zeigt einen Menschenversteher von Graden.

Stein hat keine Masche. Er lässt seinen Personen Raum zur Selbstdarstellung; Thomas Mann am Schreibtisch, André Malraux mit Zigarette als Intellektueller, Arthur Koestler beim Intensivstudium von Zeitungsausschnitten. Hannah Arendt (aufgenommen 1944) und Albert Einstein (1946) sind in geradezu idealer Weise festgehalten. Die betreffenden Fotografien fanden – auch eine Ironie der Geschichte – 2006 bzw. 2005 bei der Gestaltung bundesdeutscher Gedenkbriefmarken Verwendung. Der Name des Autors Fred Stein blieb unbekannt. Hannah Arendt bedankte sich 1964 für eine neuerliche Aufnahme mit den Worten: „Ich bin der ehrlichen Meinung, dass Sie einer der besten zeitgenössischen Porträtfotografen sind.“ Auch wenn dies betont freundliche Worte des Dankes sind: Sie werden durch die Ausstellung im Jüdischen Museum beglaubigt.Bernhard Schulz

Jüdisches Museum Berlin, Lindenstraße 9–14, bis 4. 5., Katalog bei Kehrer, 49,90 €.

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