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Gehen macht schlau: Maiwanderung über einen Feldweg vorbei an blühenden Rapsfeldern bei Hameln in Niedersachen

© picture alliance / Julian Strate

E-Scooter vs Literatur: Die Geschwindigkeit des Denkens

Die letzte Meile geht man am besten doch zu Fuß: Beim Gehen kommen erst die Gedanken, wie die Literatur beweist. Eine Glosse

Man konnte es irgendwann nicht mehr hören, als sich im Frühjahr die Politiker und Politikerinnen überlegten, E-Scootern den Weg auch in deutsche Städte freizumachen: Sie seien ein gutes Mittel für „die letzte Meile“ hieß es aus dem Verkehrsministerium. Immer wieder war von der „letzten Meile“ die Rede, eine Formulierung, die eigentlich aus der Gas- und Stromversorgung sowie dem Telekommunikationswesen kommt und den letzten Abschnitt der Leitung bezeichnet, die zum Hausanschluss oder dem Teilnehmerhaushalt führt.

Im Zusammenhang mit den Rollern bedeutet die letzte Meile natürlich die letzten Meter, genau genommen 1600, die man vom Bahnhof nach Hause, zur Arbeitsstelle oder sonst wohin zurücklegen muss – zu Fuß bislang noch, was nun kein Mensch mehr tut, weil alle Roller fahren. Nur gut, dass es wenigstens in der Literatur noch den Trend zum Gehen gibt, seit Jahren schon. Man denke nur an die vielen Wanderbücher von Autoren wie zum Beispiel Willi Winkler, der eine Winterreise durch Deutschland zu Fuß machte, oder Wolfgang Bücher, der mehr als einmal das Spazieren zum literarischen Prinzip erhob.

Tomas Espedal sucht beim Gehen nach sich selbst

Auch der norwegische Autor Tomas Espedal hat ein Buch mit dem Titel „Gehen“ geschrieben; ein Buch, das vor allem eine Selbstbefragung und Selbstsuche beim Laufen und Spazieren (und manchmal Trinken) ist. Espedal schreibt, seine Gedanken seien leichter, er verspüre allein durch das Gehen eine Art von Glück. Natürlich tritt er auch mit großen toten Kollegen in einen Dialog. Etwa mit Bruce Chatwin, mit dem das Gehen zu einer Arbeit geworden sei: „Es erfordert keine Bewerbung, keine Zeugnisse, man macht sich einfach auf den Weg, zur Tür hinaus, jederzeit, geradeaus, in irgendeine Richtung, die offene Straße hinab, auf zwei langsamen Füßen.“ Was will man mehr?

Vielleicht eine philosophische Erörterung, wie Rebecca Solnits gerade auf Deutsch erschienenes Buch „Wanderlust“. Zu Rate zieht Solnit die Philosophen aus der Antike, die Peripatetiker, oder Jean-Jaques Rousseau, der eigenen Worten zufolge nie so viel gedacht hat, nie „meines Ichs so erfüllt“ gewesen ist wie auf einsamen Wanderungen. Oder Sören Kierkegaard, der die „Zufallsbegegnungen auf den Straßen und Gassen“ dringend zum Denken benötigte.

Rebecca Solnit philosophiert über das Wandern

Solnit untersucht auch die Geschwindigkeit des Denkens und äußert den Verdacht, „dass der Geist wie die Füße mit rund fünf Kilometern die Stunde arbeitet. Und wenn dem so ist, bewegt sich das moderne Leben mit größerer Geschwindigkeit als das Denken – oder die Nachdenklichkeit.“ Woran man problemlos anschließen kann: Elektroroller hindern am Denken, stehen Ideen im Weg, Ideen, die gerade auf der letzten Meile kommen.

Was jetzt noch fehlt, zumindest literarisch: ein dystopischer Roman, eine Abhandlung darüber, dass das Gehen allein deshalb nicht mehr möglich ist, weil die Gehwege inzwischen voller abgestellter E-Roller sind.

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