zum Hauptinhalt
„Jeder Eifler ist ein Geschichtenerzähler“. Der 1951 in Prüm, Eifel geborene Schriftsteller Norbert Scheuer.

© F´oto: Elvira Scheuer

Ein Besuch bei Norbert Scheuer: Überm Steinbruch und in den Supermarkt

Mit seinem Roman „Winterbienen" ist er nominiert für den Deutschen Buchpreis: Eine Begegnung mit dem Schriftsteller Norbert Scheuer in Kall, Eifel.

Mit dem Städtchen Kall verhält es sich wie mit vielen Orten und Gemeinden in dieser Gegend der Nordeifel, beispielsweise Schleiden, Nettersheim oder Blankenheim: Wer von hier kommt, kennt den Ort natürlich und schätzt die Wälder der Umgebung. Wer nicht, dürfte von Kall, das knapp über 11.000 Einwohner hat und aus 23 Ortsteilen besteht, nie gehört oder als Reiseziel ins Auge gefasst haben.

Und wer einmal die Strecke von Köln nach Trier mit dem Zug gefahren ist, hat womöglich den Bahnhof von Kall registriert und gleich dahinter, unübersehbar mit seinen Fähnchen und Werbe-Logos, den großen „Rewe“-Supermarkt sowie nachfolgend  am Ortsausgang eine Zementfabrik.  Abgesehen von dem Kloster Steinfeld und den Resten eines Römerkanals etwas weiter außerhalb, gibt es keinen besonderen Grund, als Tourist Kall zu besuchen. Es herrscht hier die Tristesse der bundesrepublikanischen sechziger und siebziger Jahre, eine Mischung von Nachkriegsbauten, Vorort-Eigenheimen und Gewerbegebieten.

Allerdings hat dieser Ort einen Vorzug gegenüber anderen Gemeinden in der Nachbarschaft: Der Schriftsteller Norbert Scheuer hat aus Kall einen literarischen Ort gemacht, gerade erst wieder mit seinem jüngst für den Deutschen Buchpreis und den hochdotierten Wilhelm-Raabe-Preis nominierten Roman „Winterbienen“.

„Kall, Eifel" ähnelt „Winesburg, Ohio"

Darin ist gleich zu Beginn die Rede von dem „Bergarbeiterstädtchen“, eben Kall, „das an einem Fluss liegt, der sich durch einsame, zerklüftete Landschaften schlängelt, eine Gegend mit kleinen Dörfern inmitten von Magerwiesen, Fichten-, Kiefern- und Buchenwäldern, die sich bis zur belgischen Grenze erstrecken." 

Solche Beschreibungen gibt es in vielen Romanen Scheuers, Kall ist ihr Zentrum, die Menschen, die hier und in der Umgebung wohnen. Schon seinem zweiten Buch, das im Jahr 2005 veröffentlicht wurde, gab er den Titel „Kall, Eifel“. Das nicht nur, um seinem Wohnort Ehre zu erweisen, sondern um sich bewusst an ein großes literarisches Vorbild anzulehnen, Sherwood Andersons Erzählreigen aus dem fiktiven „Winesburg, Ohio“.

Wie Anderson mit seinem berühmtesten, im übrigen vor genau 100 Jahren erschienenen Buch verknüpft Scheuer viele kleine Geschichten über die Bewohner seines Eifelstädtchen. Manche Figuren kommen nur einmal vor und treten wieder ab, manche mehrmals. Sie kennen sich untereinander, sind auf unterschiedlichste Weise miteinander verstrickt und tauchen auch in den folgenden Romanen von Scheuer auf.

An manchen Stellen ist die Urft tief und breit

Was sie eint: Sie kommen von ihrer Herkunft nicht los, von diesem Ort mit seinem Kino, seinem „Einkaufsmarkt“, seiner Spielhalle, seinem Fußballplatz, dem Steinbruch, der Zementfabrik und den Sandsteinfelsen drumherum. Und der Fluss nicht zu vergessen: die Urft. An manchen Stellen soll sie breit und tief sein, wie es in einer Episode heißt, da fließt sie „glitzernd" dahin, da hört man das „Rauschen des stürzenden Wassers“.

Auf dem Weg zu Norbert Scheuer wundert man sich allerdings, diesen Fluss in und um Kall gar nicht zu Gesicht zu bekommen. Einmal steht an einer kleinen Brücke ein auf die Urft hinweisendes Schild,  auch einer der Kaller Ortsteile heißt Urft. Dann windet sich an anderer Stelle wirklich ein Wasserlauf dahin, allerdings einer, den man mehr als Bach bezeichnen würde und nicht als Ursprung und Zentrum des „Urftlandes“, wie Scheuer seinen Kall-Kosmos gern auch bezeichnet.

Der Schriftsteller wohnt in Keldenich, einem weiteren Kaller Ortsteil, „durch die Unterführung und dann einen Kilometer durch ein Stückchen Wald den Berg hoch“, beschreibt er am Telefon den Weg. Bei der Verabredung ein paar Tage zuvor hatte er mit Vegrnügen zugestimmt, in Kall spazieren zu gehen und Schauplätze seiner Bücher zu besuchen, aber zugleich davor gewarnt, zu viel zu erwarten. So wie im Fall der vermeintlich mächtigen, dahinstürzenden Urft könnte sich manche Enttäuschung einstellen. Nicht nur er, überhaupt sei „jeder Eifler ein Geschichtenerzähler“.

Scheuer, der 1951 in Prüm geboren wurde, einer Stadt knapp fünfzig Kilometer südlich von Kall, wirkt an diesem Spätsommernachmittag entspannt und aufgeräumt. Über einem blauen T-Shirt trägt er ein offenes, graukariertes Holzfällerhemd, dazu schlabberige Jeans; überhaupt sieht er mit seinen langen, kaum grauen Haaren noch recht jugendlich aus. Er hat gerade im Garten seines türkisgrün gestrichenen Anwesens gesessen und in einem Buch geblättert, in dem das 20. Jahrhundert abgebildet wird, Jahr für Jahr.

„Mich kennt in Kall kaum jemand"

Später erklärt er, einfach nicht parat oder vergessen zu haben, was es im Lauf seines Lebens an großen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen gegeben hat. Er könne sich vorstellen, einiges davon einmal in einem Buch zu verarbeiten; einem mit autobiografisch-soziologischer Richtung, nach dem Vorbild  Didier Eribons mit „Rückkehr nach Reims“ oder von Annie Ernaux mit „Die Jahre“.

Bedenkt man, wie bekannt die beiden französischen Autoren gerade in Deutschland sind, dann gehört Scheuer zu den großen Unbekannten der deutschsprachigen Literatur, trotz seiner acht Romane, zwei Gedichtbände und früheren Preisnominierungen: „Überm Rauschen“ stand 2009 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, „Die Sprache der Vögel“ war 2015 Favorit auf den Preis der Leipziger Buchmesse, den in der Belletritik dann doch Jan Wagner mit einem Gedichtband bekam.

In jedem Fall gehört Scheuer zu den leiserern Schriftstellervertretern im Land - und zu den vermutlich ausgeglichensten und lockersten. Was seinen Grund nicht zuletzt darin hat, dass er finanziell unabhängig ist wegen seiner Pension, „meines Stipendiums vom Staat“, wie er sagt: Scheuer hat nach einer Elektrikerlehre und einem Physik- und Philosophiestudium jahrzehntelang in den Rechenzentren der Deutschen Post und dann der Telekom als Systemprogrammierer und Datenschützer gearbeitet.

Er lacht auf die Frage, ob er nicht wenigstens hier in Kall und Umgebung überall auf der Straße erkannt und angesprochen werde: „Nein, man liest hier nicht. Mich kennt kaum jemand“. Was daran liegen könnte, wie er eingesteht, dass er sich hüte, in der Gegend auf der Bühne aus seinen Büchern zu lesen: „Dann käme der eingefleischte Kaller und würde sich darüber beklagen, dass der Baum, den ich in einer Geschichte erwähne, dort aber gar nicht stehe. Oder der Fluss bei weitem nicht so reißend sei, wie ich ihn beschreibe. So wie Ihnen das ja schon aufgefallen ist. Ich schreibe keine Dorf-Chronik - und ich erzähle ja keine guten, keine schönen Geschichten über Kall und seine Menschen".

„Winterbienen" spielt in den Jahren 1944 und 1945

Scheuer sagt, wieder mit einem Lachen, auch mit einem Anflug von Ironie, dass er in Kall ständig was von den Leuten zugespielt bekomme, dass er damit die Wirklichkeit ästhetisiere und daraus Literatur produziere. „Ist nicht das ganze Leben Literatur?“, fragt er rheotrisch und spielt auf das Zusammenspiel von Erinnerung und Vergessen, auf das von Erinnerung und Fiktion an. „Ich bin in dieser Gegend aufgewachsen und kann nur über Sachen schreiben, die ich kenne, zu denen ich Bilder im Kopf habe“. Doch erzählen seine Bücher wie nebenbei, auf eine schön subtile Weise, ohne dass auf eine bestimmte Zeit, bestimmte Ereignisse hingewiesen wird, auch von gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen und Umbrüchen, beginnend bei den sechziger, siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Das in einer Sprache, die präzise und klar ist, die auf einer Oberfläche leicht und leicht lesbar erscheint, darunter aber sehr poetisch ist. Was er gern annimmt und selbstbewusst bestätigt: „Ich schreibe Ihnen innerhalb von fünf Minuten ein Gedicht aus Passagen meines neuen Romans.“

Mit „Winterbienen“ hat Norbert Scheuer erstmals einen seiner Romane zeitlich in den Krieg verlegt, in die Jahre 1944 und 1945. Scheuers Held Egidius Arimond schreibt Tagebuch und berichtet von seinem Kaller Alltag. Als Bahnkontenpunkt wird der Ort zunehmend mehr von den Alliierten bombardiert. Arimond ist Bienenzüchter, leidet unter Epilepsie, wurde deshalb nicht in den Krieg geschickt. Zudem betätigt er sich als Flüchtlingshelfer. „Es gab hier tatsächlich viele in der Eifel“, schiebt Scheuer kurz ein, „und natürlich haben die das nicht nur aus reiner Menschenfreundlichkeit gemacht, sondern sie wollten Geld verdienen.“

Scheuer stieß auf die Geschichte in einer Chronik von Kall

Arimond bringt jüdische Flüchtlinge an die belgische Grenze, mit einem Pferdefuhrwerk, auf denen Bienen die Flüchtlinge umschwirren und so vor den Blicken und dem Zugriff der Nazis schützen. Der Clou dieses Verstecks sind Lockenwickler, die an den Kleidern der Geflüchteten befestigt sind und in denen jeweils eine Bienenkönigin steckt.

Scheuer stieß auf die Geschichte in einer Chronik von Kall. Im Ort hatte es einen Tagebuch führenden Imker gegeben, und in einem der Einträge brachte er seine Bienen und die Flugzeuge der Alliierten bildlich zusammen, „und da war für mich klar: Das ist ein Roman“. Den hat er überdies angereichert mit Notizen eines Vorfahren Arimonds aus dem 15. Jahrhunderts, der der Legende nach die Bienen in der Eifel ansiedelte – und mit Zeichnungen der verschiedenen Bomber des Zweiten Weltkriegs, die im Verlauf des Romans selbst mehr und mehr das Aussehen von Bienen bekommen.

Es ist eine seltsame Koinzidenz, dass bei der Unterhaltung über die gezeichneten Militärflugzeuge und die alliierten Bombenabwürfe auf Kall mehrmals Jagdbomber über die Eifel fliegen. In Scheuers Gartenidyll versteht man gerade sein eigenes Wort nicht. Ihn bringt das nicht aus der Ruhe: „Das ist erst seit ein paar Tagen so. Vielleicht liegt das am Wetter, vielleicht werden Einsätze vorbereitet. Aber das ist wirklich die Ausnahme“.

Sein neues Buch soll „Kall, Eifel 2" heißen

Beim Spaziergang in und um Kall sind denn auch keine Militärflugzeuge mehr zu hören oder am Himmel zu sehen. Scheuer zeigt den renaturisierten Kalk-Steinbruch, der inzwischen ein Brutplatz für Uhus ist; er führt ins sogenannte Bergschadensgebiet mit seinen stillgelegten Bleistollen, und auch hier fallen ihm die Falken am Himmel auf, die gerade einen Bussard jagen.

Das Zentrum von Kall ist ihm jedoch bis auf den „Rewe“-Supermarkt keiner weiteren Betrachtung wert. Warum nicht? „Meine Bücher sind ein Mosaik aus Ortschaften, Landschaften und den Leuten der Eifel“, halt keine präzisen Kall-Kartografierungen. Scheuer wundert sich, dass sein Besuch dem Supermarkt-Café, das in einigen seiner Romane eine Rolle spielt mit seinen Stammgästen, den sogenannten Grauköpfen, nichts abgewinnen kann.

„Hier ist doch was los“, sagt er, „hier sammele ich meine Geschichten“. Trotzdem passt das Profane, die Hässlichkeit des Supermarkts gut zu Scheuer, seiner Poetologie. Als „Anti-Heimatschriftsteller“ wird er gern bezeichnet. Was er so kommentiert: „Jeder Schriftsteller schreibt über Heimat, sonst könnte er überhaupt nicht schreiben. Das ist der Ort, von dem er kommt. Literarisch ist das so: Auf einem kleinen Fleck lässt sich alles schreiben, man muss nur das richtige Mikroskop haben.“

Schließlich sagt er zum Abschied noch, dass er wieder ein Buch im Kopf habe, mit Figuren, die man aus seinen Büchern kenne, angesiedelt vielleicht in der Gegenwart. Vielleicht aber auch in einer fernen Zukunft, eine Dystopie. Den Titel hat er auch schon: „Kall, Eifel 2“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false