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Kate Eberstadt bei der Probe mit ihrem Chor.

© Thilo Rückeis

Ein Chor für geflüchtete Kinder: Vom Flüstern zum Singen

Kate Eberstadt hat mit ihrem Hutto Project einen Chor für Flüchtlingskinder gegründet. Ende April soll er auftreten. Ein Probenbesuch.

Für viele Kinder ist es keine sonderlich aufregende Vorstellung, in einem Chor zu singen. Für die über 30 Kinder, die derzeit in einer Flüchtlings-Notunterkunft leben, sieht das völlig anders aus: Sie freuen sich, dreimal in der Woche zur Chorprobe gehen zu können. Dreimal zwei Stunden, in denen es nicht um die Erinnerungen an Krieg und Vertreibung geht, um das endlose Warten in der Turnhalle und um die vielen verschiedenen Sprachen, die hier gesprochen werden. Denn beim Hutto Project wird nur eine Sprache gesprochen, die jeder versteht: Musik.

„Wer will ein ‚Lala’ sein und wer ein ‚Tata’?“, fragt Kate Eberstadt in das provisorische Klassenzimmer. Mädchen und Jungen zwischen drei und 14 Jahren heben die Hand, jetzt kann in zwei Gruppen gesungen werden. „Tatata Tiki Tiki Tiki Ta!“, singen die Kinder, die aus dem Irak, Syrien, Afghanistan, Moldawien und Palästina stammen, während Eberstadt sie am Keyboard begleitet.

Die 24-jährige Künstlerin und Komponistin aus den USA, die derzeit in Berlin lebt, ist die Gründerin des Hutto Project, das einen Flüchtlingskinder-Chor auf die Beine stellen möchte. „Musik ist ein Medium, um Dinge auszudrücken, die sich sonst nicht anders ausdrücken lassen“, sagt sie. „Und nach den Erfahrungen, die viele dieser Kinder gemacht haben, ist das sehr wertvoll.“

Auf die Idee für das Projekt kam Eberstadt, als ihr ein Mitarbeiter des Flüchtlingslagers, dessen Standort aus Sicherheitsgründen ungenannt bleiben muss, erzählte, dass die meisten Kinder hier nicht in die Schule gehen können: Dies dürfen sie frühestens nach drei Monaten, erst nach dieser Zeit dürfen ihre Eltern auch eine Arbeitserlaubnis beantragen und in ein Wohnheim oder eine Wohnung umziehen. „Es gibt hier keinerlei organisierte Aktivitäten für die Kinder“, sagt Eberstadt.

Also trommelte sie Ende 2015 befreundete Künstler zusammen und startete eine Crowdfunding-Kampagne. Die angestrebten 12 000 Dollar kamen zwar nicht zusammen, doch die immerhin knapp 9000 Dollar, die gespendet wurden, konnten genutzt werden, um Unterrichtsmaterialien und Instrumente zu besorgen und das Projekt in Ton und Bild zu dokumentieren. Das Deutsche Rote Kreuz, das die Notunterkunft betreibt, stellte unentgeltlich einen Raum zur Verfügung.

Manchmal fehlen plötzlich Kinder, die sonst immer da waren

Seit etwa eineinhalb Monaten wird nun dreimal wöchentlich geprobt, Ziel sind ein oder mehrere öffentliche Auftritte Ende April. Ein knapper Zeitplan, doch es geht nicht anders, denn nach drei Monaten sind die Kinder mit ihren Familien vielleicht schon an einem ganz anderen Ort. „Es kann sein, dass wir eines Tages in den Klassenraum gehen, und ein Kind, das sonst immer da war, fehlt plötzlich, und wir wissen überhaupt nicht, warum“, sagt der Dramaturg Khesrau Behroz, einer der über 40 ehrenamtlichen Helfer des Hutto Project.

Eberstadt ist gut vernetzt: Robert Wilson, dessen Schülerin sie ist, hatte sie letztes Jahr für eine Forschungsstelle der American Academy in Berlin vorgeschlagen. Sie wurde angenommen. Zuvor hatte sie bereits Chöre geleitet und die renommierten Summer Lectures in dem von Wilson gegründeten Watermill Center in New York mitorganisiert. Über diese lernte sie unter anderem auch Heiner Müllers Tochter Anna Müller kennen, die beim Hutto Project als Eberstadts Assistentin mitarbeitet.

Benannt ist das Projekt nach Eberstadts ehemaligem Musiklehrer Benjamin Hutto: Der Chorleiter und Komponist habe großen Einfluss auf ihre musikalische Entwicklung gehabt: „Er war die Art von Lehrer, die jeden Schüler individuell gefördert und ermutigt hat“, so Eberstadt. „Von ihm unterrichtet zu werden, hat mein Leben verändert.“ Als Hutto im September 2015 starb, kamen Hunderte zu seiner Beerdigung. Für Eberstadt war klar, dass die von ihr geplante Initiative, die dieselbe Philosophie wie Hutto anstrebte, nach ihm benannt werden musste.

Den Kindern in der Flüchtlingsunterkunft ist deutlich anzumerken, dass sie den Chor zu schätzen wissen: Schon vor Beginn der Probe kommen einige der Mädchen, die Blockflöten dabeihaben, Eberstadt auf der Straße entgegengelaufen, greifen nach ihrer Hand, sprechen auf Arabisch, Farsi, Deutsch oder Englisch durcheinander. Sie sind voller Energie, doch sie haben kaum Möglichkeiten, um der lähmenden Langeweile der Flüchtlingsunterkunft zu entfliehen.

Manche Kinder blühen regelrecht auf

Vor dem Gebäude spielen einige Jugendliche Fußball, ein paar ältere Männer und Frauen sitzen auf dem Rasen und genießen die Frühlingssonne. In der Turnhalle müssen über 150 Menschen in einem Raum zusammenleben, ohne jede Privatsphäre. Notdürftig haben die Flüchtlinge Decken und Teppiche als Sichtschutz um ihre Betten gehängt. „Die Eltern sind müde von der Reise und von der Bürokratie und haben oft keine Energie mehr für die Kinder“, sagt Khesrau Behroz. „Sie sind sehr dankbar, dass wir sie ab und zu für zwei Stunden beschäftigen.“

Der Stress, die Langeweile und die vielen Menschen um einen herum, die nicht die eigene Sprache sprechen, führen gelegentlich auch unter den Kindern zu Streit. Mit dem Chor will Kate Eberstadt jedoch einen Raum schaffen, in dem man sich auf Augenhöhe begegnet und die alltäglichen Konflikte für eine Weile ausblenden kann. Manche Kinder, wie die sechsjährige Rahaf, blühen dadurch richtig auf: „Anfangs hat sie nur geflüstert und sich immer versteckt“, sagt Eberstadt über das Mädchen, das große Brandnarben im Gesicht hat – woher diese stammen, weiß auch Eberstadt nicht. Irgendwann fragte Rahaf aber doch, ob sie etwas vorsingen könne: „Das war ein wunderbarer Augenblick für mich“, sagt Eberstadt. Mittlerweile singt sie in den Proben viel mit, ist aktiv und wirkt sehr selbstbewusst.

Eine Crowdfunding-Kampagne soll helfen

Kate Eberstadt hofft, dass besonders der öffentliche Auftritt den Kindern etwas gibt, an dem sie Spaß haben und worauf sie stolz sein können. Doch dafür fehlt es derzeit noch an Geld, vor allem für Übersetzer, Musiker und Technik. Daher startet am fünften April eine neue Crowdfunding-Kampagne, mit der genau dies finanziert werden soll: Angestrebt sind 15 000 Dollar.

Das Projekt weiter auszubauen und zu professionalisieren, ist Eberstadts Ziel. Am liebsten möchte sie die Kinder alle zwei Wochen aus der Notunterkunft herausholen, um zum Beispiel in die Philharmonie oder ins Theater zu gehen. Auch für Erwachsene will sie künftig einen Chor anbieten. Und sie hofft, Nachahmer zu finden: „Ich denke, dass im Grunde jeder so etwas auf die Beine stellen könnte“, sagt Eberstadt. „Egal ob es ein Chor ist, ein Kunst-Kurs oder ein Fußball-Team.“

Infos: https://www.generosity.com/education-fundraising/help-the-hutto-project-take-the-next-steps/x/13257895 sowie www.thehuttoproject.com

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