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ür auf, Bild drin. Der Klassiker unter den im 19. Jahrhundert erfundenen Adventskalendern.

© Patrick Pleul/dpa

Anhalter Bahnhof: Ein Herz für Türen

Deutschland im Innovationsleck? Mitnichten. Die Schöpferkraft der Adventskalenderindustrie ist phänomenal. Ein Glosse zur Vorfreude in 24 Portionen.

Hosianna! Stimmt doch gar nicht, dass der Erfindergeist erlahmt ist. Dass der Innovationsmotor Deutschland stockt. Dass künftig immer der Ami oder der Asiate die Nase vorn haben. Beim Blick in die prall gefüllten Kaufhausregale erhellt sich schlagartig der novembertrübe Sinn. Denn wenigstens eine Branche gibt es im Land der Dichter und Denker, in der die Schöpferkraft der Deutschen konkurrenzlos bleibt: die Adventskalenderindustrie.

Die Verkürzung der Wartezeit bis zum Christfest durch einen mit 24 Türchen versehenen Überraschungskalender haben nämlich nicht die Schweizer, sondern die Deutschen erfunden. Im 19. Jahrhundert schon. Und zwar in evangelischen Bastlerkreisen, deren ganze Gemeindezentren behäkelnde Kreativkraft man bei den Adventsbasaren kommendes Wochenende wieder mit blanken Augen bestaunen darf. 1903 hatte der Münchner Verleger Gerhard Lang den ersten Prototyp mit den Klapptürchen gedruckt. Und klar, auch der allererste mit Schokolade gefüllte Adventskalender wurde 1958 hierzulande in den Handel gebracht. Seither ist das zusehends profanierte Adventskalenderwesen immer ganz vorne dabei, wenn es darum geht, Ideen auszuhecken, die sich in 24 Portionen teilen lassen.

Büchsenbier, Zehenspreizer, Teebeutel, Parfumflakons, Müslisäcke, Plastikspielzeug – all das wird zur Steigerung der weihnachtlichen Vorfreude hinter Zahlen und Pappe oder in Jutesäckchen gepackt. Ja, sogar die Berliner Mauer ließ sich im Jahre 1989 mittels eines Adventskalenders Stück für Stück abreißen, wie das Museum Europäischer Kulturen in Dahlem gerade in einer Ausstellung über die hundertjährige Geschichte der Adventskalender in Europa zeigt (bis 17. Januar 2016, Di-Fr 10-17 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr).

So richtig Kultur kommt jetzt aber mit „Criminal Christmas“ in die Sache, einem Adventskalender für Intellektuelle, der außer Schokolade auch einen Roman enthält. Ob auf 24 Seiten oder mehr, ist von außen schlecht zu sehen. Der Held, Ruprecht Knecht, lässt jedenfalls eine gewisse Nähe zum Thema erkennen. Den alle Menschen mit Liebe umhüllenden Geist der Weihnacht symbolisiert besonders schön der „Adventskalender für Sehbehinderte“, eine rote Pappscheibe, deren Türen mit Goldpünktchen in Brailleschrift markiert sind. Und was steht am Beginn jeder Innovation? Keine Denkverbote! Prompt wartet der „Tag und Nacht“-Kalender mit unerhörten 48 Türen und ebenso vielen Pralinen auf: „Am Tag ohne Alkohol, nachts mit Alkohol“. Die helfen der Schöpferkraft aber besser andersherum.

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