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Kultur: Ein Riss ging durch die Welt

Ost-Erinnerungen: „Als wir Zukunft waren“.

Worüber reden Menschen um die sechzig? Über die Zeit, als die Welt noch ihnen gehörte. Oder wie Mao sagte: „Ihr seid die Sonne zwischen 8 und 9 Uhr morgens!“ Genauso haben sie es empfunden, sieben Filmemacher Ost, alle Anfang der fünfziger Jahre geboren. Sie haben gemeinsam an der Potsdamer Filmhochschule studiert, ihr Beruf, ihre Leidenschaft ist demnach, anderer Leute Geschichten zu erzählen. Bis sie sich vor drei Jahren an einem Freundes-Frühstückstisch in der Uckermarck fragten: Warum erzählen wir nicht mal unsere eigenen?

Peter Kahane fängt an. Seine jüdischen Eltern kehrten vier Jahre nach Ende des Krieges zurück in ihre Heimatstadt. Sie gingen nach Ostberlin, auch um Seite an Seite mit der Zukunft zu wohnen. Aber an den Wochenenden fuhr der Junge zu Onkeln und Tanten in den Westen. Die Erinnerung des Kindes: zwei laute, schrille Frauen am Tisch. Die kommen aus Auschwitz, flüsterten die Erwachsenen dem Jungen zu, als sei das eine Erklärung. Die Welt mit Kinderaugen sehen: So weltöffnend-unschuldig diese Perspektive sein mag, so ist sie doch auch problematisch, wenn sie gleichsam zur inszenierten, zur gespielten Naivität wird. Thomas Knauf, der als Regieassistent bei Szabós „Mephisto“ begann, hat es leichter, sein Blick auf sich selbst ist der des 17-Jährigen im August 1968. Die Freunde fahren an die Ostsee oder in die Berge, er fährt nach Warschau. Mit zwei Westberliner Studenten legt er weiße Chrysanthemen vor der tschechischen Botschaft nieder, in stiller Anteilnahme am Ende des Prager Frühlings. Sie werden verhaftet, die beiden Westberliner nehmen es als Happening, aber er?

Fast alle Selbstporträts in „Als wir die Zukunft waren“ teilen die verstörende Erfahrung, dass plötzlich Nachbarn und Freunde fehlen, manchmal sogar die eigenen Eltern. Der Verantwortliche für diesen horror vacui heißt der „Westen“. War es verzeihlich, dass die Mutter des Kameramanns Lars Barthel das einzige Westpaket zurückschickte, dass sie je erhielt? Die Welt bekommt Sprünge, die Zukunft auch. Dieser Film aus Filmen weitet sich zur Entwicklungsgeschichte Ost. Zwischen den sieben Porträts sprechen die Selbst-Darsteller über das Weltverhältnis, das in der DDR ganz anders war als in der Bundesrepublik: An den Kapitalismus müsse keiner glauben, er sei auf mitunter bestürzende Weise einfach da. Der Sozialismus aber war immer Entwurf, Ausgriff in die Zukunft, über eine oft lächerliche, grausame, dumme Vorläufigkeit hinweg. Kerstin Decker

b-ware, Brotfabrik, Hackesche Höfe, Union Filmtheater

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