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Ein Virus im HAU: Marianna Simnett inszeniert und spielt „Gorgon“

Bedrohliche Tierwesen, halb Frau halb KI, bezirzten anlässlich der Art Week das Publikum im HAU. Es bleibt die Frage: Bringt die neue Technologie wirklich einen Mehrwert?

„Gorgon“ von Marianna Simnett ist ein schönes Stück darüber, wie wir dem Unbekannten begegnen können. Spoiler: Mit Empathie. Die Musik – besonders die Vermischung von synthetischen und akustischen Klängen, von Aufnahmen und Livemusik – ist wirklich hervorragend. Auch die Kostüme und Masken des vierköpfigen Flötenchors sind einfallsreich und reflektieren auf eindrucksvolle Weise die Funktion von Technologie als Zerrspiegel unserer gemeinsam gelebten Realität.

Die Geschichte beginnt mit Hans und Greta, die unter sehr schlechten Bedingungen in einem Donut-Stand arbeiten. Hans sieht ein bisschen aus wie ein Cherub, ein Engel mit glockenheller Stimme und Kinderkrawatte. Greta sieht mit ihren langen, pinken Fingernägeln und einem weiß-rosa Business Ensemble eher aus wie eine hoffnungslos ambitionierte „Powerfrau“. Vielleicht ist sie die Hexe im Lebkuchenhaus, vielleicht aber auch eine Neuauflage der griechischen Göttin Athene, die für Kriegsstrategie und Handwerk stand. Greta/Athene rüstet sich im Verlauf des Stücks mit Waffen aus dem 3D Drucker, um dem übermenschlichen Wesen Gorgon, das mit seiner Stimme die ganze Nation in seinen Bann zieht, seiner Macht zu berauben. Gorgon ist ein gestaltwandelndes Wesen und eine Art Sirene – es erscheint im wahrsten Sinne des Wortes als Projektion.

Simnett trainierte die KI mit ihrem eigenen Bildmaterial

Gespielt wird Gorgon von Marianna Simnett selbst, die allerdings nicht auf der Bühne erscheint. Gorgon ist eine virtuelle Präsenz, die überlebensgroß hinter den Spielenden auftaucht und sich als unheimlicher Klang in den Zuschauerraum ausbreitet. Die sich ständig verändernde Gestalt entsteht mithilfe kunstvoller Masken und einer KI, welche die Künstlerin mit ihrem eigenen Bildmaterial trainiert hat. Simnett nimmt so die Züge verschiedener Tierarten an, die für ihr täuschendes Erscheinungsbild bekannt sind. Jede ihrer Formen hat ihre eigene, KI-gestützte Stimme.

„Ich war einmal eine Frau / jetzt bin ich größer, weit verbreitet / ein Virus”, so stellt sich Gorgon dem Publikum vor. Und dieses Virus ergreift alles: die ständigen Mutationen des Sets, der Figuren und insbesondere ihrer Aussprache machen es mitunter schwer, die Monologe wirklich zu verstehen. Was aber deutlich wird, ist die Problematik der (menschlichen) Identität und Authentizität, wie Greta uns mit einem Knochen in der Hand und tonlosen Lipsync gemahnt. „Mimicry is a dangerous luxury“ heißt der erste Akt und diese Zeile wird oft von Hans gesungen, der Gorgon schon bald mit Leib und Seele verfällt.

Athenes/Gretas Knochenflöte führt schließlich eine Begegnung von Greta und Gorgon in Gestalt der auch von Donna Haraway besungenen mythologischen Bienenkönigin Potnia Melissa herbei. Die beiden Figuren nähern sich einander und erkennen ihre gegenseitige Verletzlichkeit und Unvollkommenheit.

Die Dämonisierung der weiblichen Stimme

Greta muss/darf ihre menschliche Herrschsucht aufgeben. Das Stück erzählt sich ohne Umwege und hauptsächlich über nicht-menschliche Agenten: die Flöte, die Projektion, und einen Hund, der mit der Open-Source-KI-Stimme der Künstlerin Holly Herndon singt. Das ist wirklich lustig, auch wenn die Texte tragisch sind und quasi in einem Atemzug viele Geschichten über die Dämonisierung der weiblichen Stimme bündeln.

Marianna Simnett ist eine großartige Videokünstlerin, aber für Gorgon hat sie den theatralen Raum der Theatertradition gewählt. Vielleicht sollten wir uns angesichts der rasanten Entwicklung der KI-Technologie doch hin und wieder fragen, ob das jetzt wirklich alles so neu und anders ist.

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